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Die Seelenzauberin - 2

Die Seelenzauberin - 2

Titel: Die Seelenzauberin - 2
Autoren: Celia Friedman
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schaue. Der Junge starrte sie ungeachtet dieser Warnung wie gebannt an, zu groß war seine Sehnsucht, Zeuge ihrer ungeheuren Macht zu werden, sie zu begreifen und schließlich zu besitzen.
    Eines der Flugwesen nach dem anderen ließ sich aus den Wolken fallen, schwenkte ein, bis es unter dem ätzenden Rauch war, und flog auf die Kaldera zu. Das Geschrei im Kessel war verstummt. Die Mädchen zitterten immer noch vor Angst, und eine wimmerte leise vor Schmerz, als die mächtigen Schwingen dicht über ihr die rauchige Luft zu Wirbeln und Strudeln peitschten, doch sonst waren sie vor lauter Schock ganz still, eine jede wie gelähmt beim Anblick ihres geflügelten Bräutigams. Selbst der Junge hoch über ihnen konnte sich der Wirkung der Götterpräsenz nicht entziehen. Die Angst ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren … doch zugleich spürte er eine seltsame, beklemmende Erregung, so als beobachtete er dieselben Mädchen, wie sie nackt in einer heißen Quelle badeten. Schweigend und wie erstarrt sah er zu, wie ein Wesen nach dem anderen auf die jungen Bräute hinabstieß. Diese schienen ihre Schmerzen vergessen zu haben. Sie sanken zurück auf die heiße Erde und streckten den Kreaturen die Arme entgegen, als wollten sie einen Geliebten empfangen. Die Szene war natürlich grotesk, aber auch faszinierend, und der Junge konnte den Blick nicht davon wenden.
    Noch hatte ihn keiner der Götter bemerkt, oder wenn doch, dann hielten sie ihn ihrer Aufmerksamkeit nicht für würdig. Hatte sie jemals einer von seinen Landsleuten so gesehen, war ihnen so nahe gewesen, ohne geopfert worden zu sein? Zum ersten Mal, seit er von zu Hause fortgelaufen war, hielt er es für möglich, so lange am Leben zu bleiben, dass er seinen Plan zu Ende führen konnte.
    Und wenn es klappte … wenn es klappte …
    Er wagte nicht einmal, daran zu denken.
    Eines der Mädchen war offenbar bereits tot, aber er konnte nicht sagen, woran sie gestorben war. Ein riesiger Gott mit kobaltblau und violett schillernden Schwingen war auf sie zugeschossen, als wollte er sie angreifen, nur um sofort wieder hochzuziehen und zu seinen Kameraden zurückzukehren. Dabei hatte er einen Schrei ausgestoßen, der die ganze Kaldera erfüllte. Der Junge war sicher, dass er das Mädchen nicht berührt hatte. Dennoch lag sie so seltsam still und reglos da, wie es nur tote Dinge sein können, als hätte man ihr alle Lebenskraft aus den Gliedern gesogen. Ihr Sterben war so geräuschlos vonstatten gegangen, dass die anderen nichts davon bemerkt hatten. Vielleicht waren sie auch so sehr bemüht, sich ihren Bräutigamen willfährig zu zeigen, dass sie sich einfach nicht darum kümmerten.
    Und dann entdeckte der Junge, worauf er gewartet hatte.
    Auf dem Rücken eines Gottes saß ein Reiter. Auf den ersten Blick sah er fast aus wie ein Insekt. Arme und Beine steckten in einer blauschwarzen Hülle, die der Haut des großen Wesens so ähnlich war, dass man nur mit Mühe unterscheiden konnte, wo das Tier aufhörte und der Mensch anfing. Zwei kleinere Schwingen, die aus dem Leib des Gottes wuchsen, waren nach hinten um den Reiter gelegt wie der glänzende Panzer einer Insektenpuppe. Genau in diesem Augenblick teilte sich der Kokon, und sein Inhalt kam zum Vorschein: ein Vorgang wie beim Schlüpfen einer Heuschreckenlarve.
    Dem Jungen blieb fast das Herz stehen. Für einen kurzen Moment schien die Welt zu erstarren.
    Die Mythen sind also wahr , dachte er aufgeregt.
    Das Wesen auf dem Rücken des Gottes war ein Mensch. Keiner von seinen Landsleuten, nein, aber doch einem Menschen so ähnlich, dass keine Verwechslung möglich war. Die Haut des Reiters war sehr viel heller als seine eigene, fahl und kränklich wie geronnene Milch. Sein langes Haar war ölig und mit Schmutz verklebt, auch der eng anliegende Harnisch schien in Öl getaucht zu sein, sodass mit jedem Lichtstrahl, der darauf fiel, schillernde Regenbogen über die dunkle Oberfläche tanzten. Der Anblick ließ einen frösteln, aber die Gestalt war ohne jeden Zweifel menschlich. Und das war wichtiger als alles andere.
    Der Junge nahm seinen Mut zusammen und holte tief Luft. Jetzt , dachte er. Jetzt ist es so weit.
    Er stand auf.
    Seine Beine zitterten stärker, als es selbst der anstrengende Aufstieg rechtfertigen konnte. Er fürchtete schon, sich nicht aufrecht halten zu können, und die Landschaft drehte sich schwindelerregend um ihn; doch dann zwang er allein mit seinem Willen die Welt, wieder still zu stehen, und seine
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