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Die Schwestern von Sherwood: Roman

Die Schwestern von Sherwood: Roman

Titel: Die Schwestern von Sherwood: Roman
Autoren: Claire Winter
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meisten von ihnen sahen dünn und abgemagert aus. Nach Kriegsende hatten sie alle geglaubt, dass es besser werden würde, doch das Gegenteil war der Fall. Das Essen, das ihnen auf den Lebensmittelkarten zugestanden wurde, war so knapp, dass es Männer, Frauen und Kinder zum Hamstern ins Umland und vor allem hier in Berlin immer wieder auf den Schwarzmarkt trieb. Die letzten Besitztümer – Porzellan, Schmuck, silbernes Besteck und Kleidung – wurden voller Verzweiflung gegen etwas Essbares eingetauscht: ein Pfund Butter, ein bisschen Speck oder vielleicht sogar ein paar Eier. Natürlich war der illegale Handel verboten, doch das interessierte schon lange keinen mehr. Der Hunger wog stärker als jede Aussicht auf Strafe. Melinda versuchte, sich um die Schlange herum einen Weg zu bahnen, und sah zu spät, dass ihr jemand von der anderen Seite entgegenkam. Bevor sie ausweichen konnte, prallte sie unvermittelt gegen eine große, breitschultrige Gestalt. Die Mappe rutschte aus ihren Armen und landete zwischen den Füßen der Menschen. Sie unterdrückte einen Fluch. Es war fast unmöglich gewesen, überhaupt einige Blätter Papier aufzutreiben – nicht auszudenken, wenn die Arbeitsproben ihrer Artikel schmutzig geworden waren. Verärgert bückte sie sich, doch der Mann war ihr schon zuvorgekommen.
    Er reichte ihr die Mappe zurück. »Verzeihung. Es tut mir leid – es war meine Schuld«, sagte er mit einer dunklen Stimme, in der ein britischer Akzent schwang.
    Erleichtert sah sie, dass die Artikel keine Flecken abbekommen hatten. Dann blickte sie den Unbekannten vor sich an. Sein markantes Gesicht wurde von dunkelbraunen Haaren umrahmt. Er war in den Dreißigern und gut gekleidet. Sein dunkelgrauer Wollmantel wirkte wie neu – und er war attraktiv. Fast war es ihr unangenehm, das festzustellen, denn sie wurde sich plötzlich ihres schäbigen abgetragenen Mantels bewusst. In dem durchdringenden Blick des Mannes lag etwas Neugieriges und Prüfendes zugleich, und sie spürte, wie sie eine leichte Verlegenheit ergriff.
    »Danke! Es ist ja nichts passiert«, antwortete sie, als sie endlich ihre Sprache wiedergefunden hatte, nickte ihm zu und lief, bevor er noch etwas sagen konnte, eilig weiter.
    Das seltsame Gefühl, dass er ihr hinterherschaute, beschlich sie dabei. Er hatte sie angesehen, als würde er sie kennen, dachte sie. An der nächsten Straßenkreuzung konnte sie dem Impuls nicht widerstehen, sich noch einmal umzudrehen. Doch er war nirgends mehr zu sehen. Ihr Blick streifte im Weitergehen die andere Straßenseite – und da entdeckte sie ihn. Er stand neben einem Geschäft und schaute zu ihr herüber. Für einen kurzen Moment erstarrte sie. Beobachtete er sie? Doch dann war er mit einem Mal in der Menge verschwunden. Sie sah sich suchend nach ihm um, bevor sie kopfschüttelnd weiterlief. Anscheinend litt sie schon an Verfolgungswahn.
    2
     
    D ie Wohnung, in der Melinda zurzeit ein Zimmer hatte, befand sich in der Ansbacher Straße. Neben ihr waren noch drei weitere Untermieter, die wie sie ausgebombt waren, in der Fünfzimmerwohnung einquartiert. Die eigentlichen Mieter, die Herders, waren ein Ehepaar in mittleren Jahren. Die Wohnsituation mit ihnen gestaltete sich schwierig. Es war nicht allein die mangelnde Privatsphäre und der Umstand, sich mit fremden Menschen die Küche und das Bad teilen zu müssen, sondern vor allem die impertinente Neugier von Frau Herder, die oft an Melindas Grenzen ging. Sie hatte mitbekommen, dass die Vermieterin regelmäßig ihre Sachen durchstöberte, wenn sie außer Haus war, und war froh, dass sie die wichtigsten persönlichen Dinge und Dokumente schon während des Krieges bei ihrer Freundin Irene, die in Kladow, am Rande von Berlin lebte, untergebracht hatte.
    Auch als sie an diesem Tag die Treppe hochgestiegen war und die Wohnungstür öffnete, tauchte Frau Herder in ihrer verwaschenen blauen Kittelschürze sofort wie ein Wachhund im Flur auf. Melinda konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie früher mit Freude jede Information über die Hausbewohner an den Blockwart weitergegeben hatte.
    »Guten Abend.« Sie zog sich den Schal vom Kopf.
    Die Vermieterin nickte knapp, die Hand in die Hüfte gestützt. »Sie haben ein Paket bekommen«, eröffnete sie ihr in einem Ton, als würde es sich bei dieser Tatsache um etwas höchst Verdächtiges handeln.
    »Wirklich?« Melinda blickte zu dem kleinen Holztisch, auf dem normalerweise die Post abgelegt wurde. Doch es war nichts zu
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