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Die russische Herzogin

Titel: Die russische Herzogin
Autoren: Petra Durst-Benning
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sie mit ihrer rechten Hand in der Ritze zu pulen.
    »Vater und ich kommen, so schnell es geht, auch nach Stuttgart«, hatte die Mutter zum Abschied gesagt. Ein kleiner Trost zumindest. Wann war »so schnell es geht«?
    »Sehen Sie den großen Platz und das langgezogene Gebäude dahinter? Das ist das Stuttgarter Schloss«, sagte Dr. Haurowitz.
    » Das soll ein Schloss sein? Wie klobig das aussieht. Und so schlicht!«, entfuhr es Wera. »Vaters Schwester muss eine sehr arme Frau sein …« Während sie noch rätselte, wie es sein konnte, dass eine russische Großfürstin arm war, kam ihr ein erhebender Gedanke: Womöglich hatte die Patentante nicht einmal genügend Geld, um sie, Wera, satt zu bekommen? Das wäre ja … Das wäre großartig! Wera nahm sich vor, besonders viel zu essen. Dann würde die Tante sagen, sie wäre zu teuer und müsse wieder nach Hause. Was für eine hervorragende Idee – ihre Eltern würden Augen machen, wenn sie plötzlich wieder in Petersburg auftauchte.
    »Die Tante kann bestimmt nichts dafür, dass sie so arm ist«, sagte sie versöhnlich. »Sie ist ja keine Königin, sondern nur eine Prinzessin.«
    »Die Württemberger arm – Sie kommen auf Ideen! Wehe, Sie geben nachher solch eine despektierliche Bemerkung von sich«, sagte Dr. Haurowitz, während er angestrengt aus dem Kutschenfenster schaute. Dabei gab es hier im Gegensatz zu den belebten Straßen von zuvor gar nichts zu sehen, der Platz vor dem Schloss war menschenleer. Nur ein paar Tauben stoben vor der heranfahrenden Kutsche davon.
    Wera frohlockte. Von wegen: Sie wurden sehnsüchtig erwartet! Womöglich war die Tante verreist? Manchmal gingen Briefe verloren, oder? Vielleicht wusste die Tante gar nicht, dass sie anreiste? Dann konnten sie auf der Stelle kehrtmachen und heimfahren. Wera lächelte wie eine Katze in einem Mäusetraum.
    »Undbei der Begrüßung wird auch nicht gesungen. Und nicht getanzt. Überhaupt: Wagen Sie es nicht, herumzuzappeln! Wenn die Kutsche hält und wir aussteigen, sind Sie still und warten, bis Sie von den Erwachsenen angesprochen werden. Dann machen Sie einen Knicks, wie es Ihre zahlreichen Gouvernanten Ihnen beizubringen versuchten. Haben Sie mich verstanden, Wera Konstantinowa?«
    Wera nickte pflichtschuldig. Wie immer, wenn der Arzt besonders streng sein wollte, bewegten sich seine buschigen Augenbrauen wie kleine Tierchen auf und ab. Gustl und Moritz hatte Wera die beiden genannt. So hießen die zwei Eichhörnchen in dem deutschen Kinderbuch, das Tante Olga ihr einst als Weihnachtsgeschenk geschickt hatte. Gustl hatte mehr Haare als Moritz und saß ein Stück weiter oben.
    Der Doktor tat zwar streng, war aber ein netter Mann. Viel netter als der schreckliche Arzt, der daheim so oft ihren Kopf untersucht hatte. Dr. Haurowitz hatte sie kein einziges Mal untersucht und ihr auch nicht weh getan. Stattdessen hatte er ihr spannende Geschichten erzählt. Von seiner Jugendzeit in Kopenhagen. Und einer Reise nach Indien, als er noch jung und Schiffsarzt gewesen war. Indien sei viel weiter entfernt als Württemberg, hatte er angefügt. Und dass sie froh sein könne, dass ihre Eltern sie nicht dorthin geschickt hatten. Dort würde nämlich der Pfeffer wachsen. Wera hatte diese Bemerkung nicht verstanden, aber dennoch in sein Lachen eingestimmt. Manchmal wäre es ihr allerdings lieber gewesen, der Arzt hätte geschwiegen, denn er hatte schrecklichen Mundgeruch. Moderigen Mundgeruch. Sie kicherte.
    Der Arzt warf ihr einen wohlwollenden Blick zu. »Nun freuen Sie sich doch auf Ihre Patentante, nicht wahr?«
    Die Kronprinzessin wohnte gar nicht im Schloss, erfuhr Dr. Haurowitz von den Wachen, die vor dem großen Portal postiert waren, sondern im Kronprinzenbau, und der lag dem Schloss direkt gegenüber.
    Diese unerwartete Information brachte Wera durcheinander. Unruhigwippte sie mit beiden Füßen auf und ab. Was hatte das zu bedeuten? Sie sollte doch ins Schloss kommen, von einem Kronenbau war nie die Rede gewesen! Ob es ihren Eltern recht war, dass  sie nun woandershin fuhren? Sie wollte gerade anfangen, darüber mit Dr. Haurowitz zu diskutieren, als die Kutsche hielt. Der Verschlag wurde aufgerissen und die kleine Treppe heruntergeklappt.
    Dr. Haurowitz holte tief Luft, dann setzte er einen Fuß auf die Treppe. »Da wären wir.«
    Wera lugte aus dem Fenster, während ihr Herz mit ihrem Magen Fangen spielte. Die vielen fremden Menschen. Württemberger.
    Ganz vorn stand eine Frau, so schön, wie Wera noch
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