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Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman

Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman

Titel: Die roten Blueten von Whakatu - Ein Neuseeland-Roman
Autoren: Inez Corbi
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gespannt war, brüllte, ein Mann mit einem Pferdefuhrwerk ließ die Peitsche knallen. Ein Händler mit einem Bauchladen verkaufte Wurst und Brot. Lina knurrte der Magen.
    Um sich davon abzulenken, versuchte sie, die Menschen zu zählen, die zusammen mit ihr anstanden, kam aber wegen der vielen Kinder, die hin und her liefen, bald durcheinander. Es waren sicher über hundert Menschen. Wollten die alle nach Neuseeland? Und was war, wenn es zu viele waren? Würden sie dann wieder zurückgeschickt?
    Die Menschenschlangen bewegten sich nur langsam vorwärts. Nach einer Stunde waren die Schwestern immerhin schon vor dem Eingang angelangt. Jetzt konnte Lina sehen, dass die beiden Reihen durch einen dunklen Eingangsbereich führten und dann vor zwei Türen endeten. Hier drinnen war es viel wärmer als draußen. Um einen möglichst guten Eindruck zu machen, hatte sie sich heute Morgen gründlich gewaschen, doch jetzt war sie schon wieder völlig verschwitzt.
    Die Schlange rückte ein paar Meter vor, als die vielköpfige Familie Fanselow hinter der Tür verschwand. Eine ganze Weile verstrich, bis alle mit glücklichen Gesichtern wieder herauskamen. Dann waren Lina und Rieke an der Reihe.
    Lina wollte Rieke an der Hand nehmen, aber ihre Schwester schüttelte sie ab. Sie traten ein.
    »Tür zu!«, erscholl es. Lina zuckte zusammen und beeilte sich, die Tür zu schließen.
    In dem kleinen, schmucklosen Raum stand lediglich ein langer breiter Tisch, durch das Fenster konnte Lina auf einen großen Hof sehen. Hinter dem Tisch saßen ein Mann und eine Frau. Der Mann, der einen Zwicker auf der Nase trug, hatte einen dicken Stapel Papiere, ein Stempelkissen und einige Stempel vor sich liegen. Es roch nach Schreibstube.
    »Name?«
    Lina setzte ihr liebenswürdigstes Lächeln auf. »Karolina Salzmann. Aber ich werde Lina genannt. Und … und das ist meine Schwester Friederike.«
    Der Zwicker hob den Kopf und musterte sie durch die spiegelnden Gläser. »Eine nach der anderen, junges Fräulein.« Er suchte mit einem dicken Zeigefinger seine Liste ab. »Paap, Parbs, Rausch … Salzmann, Karolina, da steht es ja. Deine Papiere?«
    Lina öffnete ihren zusammengefalteten Reisepass, den sie im Grevesmühlener Amtshaus bekommen hatte und den sie sorgsam unter ihrer Kleidung verwahrt hatte, und reichte ihn dem Mann.
    »Gebürtig aus Boltenhagen am 22. September 1828?«
    Lina nickte.
    »Du bist noch sehr jung. Gerade mal fünfzehn.« Der Zwicker sah sie prüfend an. »Was sagen deine Eltern dazu?«
    »Meine Eltern«, Lina schluckte, »meine … unsere Eltern sind tot.«
    »Und ein Vormund? Wer kümmert sich um euch?«
    »Niemand. Wir … wir sind ganz allein.«
    Das stimmte nicht ganz. Sie hätten zu Großonkel Enno in Grevesmühlen gehen können. Aber Großonkel Enno hatte die beiden Mädchen bei ihrem letzten Besuch vor einem Jahr ganz seltsam angesehen und schließlich sogar versucht, Lina unter den Rock zu fassen. Unter keinen Umständen wollte sie noch etwas mit ihm zu tun haben.
    »Also gut, mit fünfzehn Jahren giltst du in den Schiffspapieren sowieso als Erwachsene. Irgendwelche Krankheiten oder Behinderungen?«
    Lina schüttelte den Kopf. »Nein.«
    »Schwangerschaften? Nerven- oder Geschlechtskrankheiten?«
    In Lina stieg eine unangenehme Hitze auf, sie musste feuerrot geworden sein. »Nein«, murmelte sie.
    »Also eine brave Jungfer.« Der Zwicker legte die Liste zur Seite und erhob sich. »Mach dich frei.«
    Lina erstarrte. »Wie bitte?« Damit hatte sie nicht gerechnet.
    »Jetzt hab dich nicht so, Mädchen. Ich bin Arzt. Ich muss schließlich sehen, ob du unter all diesen Schichten von Kleidung nicht vielleicht einen Buckel oder die Krätze versteckst! Der Graf von Rantzau will nämlich nur gesunde, arbeitsfähige Leute haben.«
    Lina fügte sich. Noch nie hatte sie sich vor einem Mann ausgezogen. Wenigstens war sie nicht allein mit ihm. Rieke war noch da – und die Frau, die zwar nichts sagte, aber ihr stumm zunickte. Wahrscheinlich war sie nur aus Gründen der Schicklichkeit anwesend.
    Es gab nicht einmal einen Paravent oder Vorhang, hinter dem sie sich entkleiden konnte. Nur ein leerer Stuhl, der offenbar dazu gedacht war, seine Sachen darauf abzulegen.
    Mit glühenden Wangen öffnete Lina ihre Jacke, zog sie aus und legte sie über den Stuhl. Dann schnürte sie ihr dunkles, eng anliegendes Oberteil auf. Zwei von den drei Hemden, die sie darunter trug, zog sie über den Kopf, das dritte behielt sie an. Sie zog die abgetretenen
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