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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit
Autoren: Andrej Djakow
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Nun kam auch Taran wieder herein. Er hielt ein seltsames Gerät in den Händen: einen lackierten Holzkasten, an dem seitlich eine kleine Kurbel und obenauf ein gebogener Trichter aus Blech angebracht waren. Der Apparat war so verstaubt, dass Taran niesen musste.
    So ein Ding hatte der Junge noch nie gesehen. Es erinnerte ihn ein wenig an das Gerät, mit dem Tante Agatha von der Moskowskaja immer das Fleisch für ihre Schweinswürste durchgedreht hatte. Bei dem Gedanken an diese Delikatesse meldete sich unverzüglich Glebs Magen. Der Stalker machte jedoch keinerlei Anstalten, die merkwürdige Konstruktion als Fleischwolf zu benutzen. Stattdessen angelte er eine einigermaßen unbeschädigte Vinylscheibe aus dem Haufen, wischte sie mit dem Ärmel ab und platzierte sie vorsichtig auf dem Teller des Grammofons.
    Neugierig verfolgte Gleb die Verrichtungen seines Stiefvaters, und als nach einigem Rumpeln und Knacken die ersten Gitarren klänge ertönten, klappte er den Mund auf. Fasziniert beobachtete er, wie sich die Schallplatte gleichmäßig auf dem Teller drehte.
    »Was ist das?«, fragte er.
    Der Stalker legte nur den Finger an die Lippen. Es dauerte nicht lange, da gesellte sich zum Spiel der Gitarre der Gesang eines Jünglings:
    In sanften Schlaf sinktSurbagan,
    am Horizont tobt ein Orkan.
    Mit Gebraus und Donnerhall
    macht er sich auf nach Surbagan.
    Als Taran die schrille Falsettstimme hörte, zuckte er zusammen und warf einen überraschten Blick auf das Grammofon.
    »Was habe ich denn da ausgesucht …« Der Stalker runzelte die Stirn. »Ich hätte ja eher an die Scorpions oder an Metallica gedacht. Stattdessen trällert sich Presnjakow einen ab.«
    Gleb hörte aufmerksam zu . A ls der Song zu Ende war, wandte er sich an seinen Stiefvater.
    »Erzähl mir von Surbagan.«
    »Hm … Du weißt ja, ich bin kein guter Geschichtenerzähler …« Der Stalker stöberte zerstreut in den Schallplatten und versuchte, die Namen auf den verblichenen Etiketten zu erkennen. »Surbagan – das ist ein märchenhafter Ort. So was wie eine Legende. Eine wunderschöne Stadt am Meer. Mit Prachtstraßen, Brücken, einer Uferpromenade … Und mit einem Hafen voller Schiffe. Eine Traumstadt eben. Ich kann mal versuchen, bei irgendeinem Trödler an der Sennaja Erzählungen von Alexander Grin aufzutreiben. Dann kannst du selbst nachlesen, was es mit dieser Stadt auf sich hat.«
    »Aber warum eine Stadt am Meer ? Sie liegt doch tief unter der Erde. Wo soll denn da das Wasser herkommen?«
    Taran legte die Schallplatten weg und sah seinen Stiefsohn prüfend an.
    »Wer hat dir das gesagt?«
    Der Junge druckste herum. Dabei rümpfte er seine Stupsnase, was ziemlich lustig aussah.
    »Alle sagen das doch …«
    »Gle-eb?«
    Wenn der Stalker diesen honigsüßen Ton anschlug, war nicht mit ihm zu spaßen. Deshalb beschloss der Junge, lieber gleich mit der Wahrheit herauszurücken.
    »Einer von den Sträflingen an der Swjosdnaja hat es mir erzählt . A ngeblich gibt es tief unter der Metro die geheime Stadt Surbagan. Eine große Stadt voller Blumen, in der es taghell ist. Und jeder hat dort eine eigene Behausung. Kannst du dir das vorstellen? Jeder!« Der Junge lächelte verträumt, doch als er den strengen Blick seines Stiefvaters bemerkte, wurde er sofort wieder ernst. »Mir ist schon klar, dass das nur eine Legende ist, aber ich finde sie irgendwie schön und …«
    »Gleb«, fiel ihm Taran ins Wort. »Was habe ich dir über die Sträflinge gesagt?«
    »Aber Onkel Pachom war doch dabei. Mit ihm ist es überhaupt nicht gefährlich und …«
    »Jetzt hör mir mal gut zu. Wenn du noch mal ohne Erlaubnis in diesen Tunnel gehst, kannst du was erleben, verstanden?! Und Pachom werde ich sagen, dass er dir die Ohren langziehen soll, wenn er dich an der Swjosdnaja erwischt! Bei diesem Gesindel dort hast du nichts verloren!«
    Der Junge verzog enttäuscht das Gesicht. Die Ausflüge in den Stollen, den die Kommunisten beharrlich in Richtung Moskau vorantrieben, gehörten zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Wen es dort nicht alles hin verschlagen hatte: Banditen, Taschendiebe und Betrüger jeder Couleur. Man traf jedoch auch ganz gewöhnliche Leute an, die meist aufgrund von Schulden dort gestrandet waren. Die Kommunisten freuten sich über jede Arbeitskraft – Ketten an die Füße, Spaten zwischen die Zähne und los ging’s: Buddeln für den Weg in die lichte Zukunft!
    Onkel Pachom, ein breitschultriger Hüne in Tarans Alter und fast so groß wie Dym,
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