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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit
Autoren: Andrej Djakow
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das Weinen von Frauen und das Gejammer der Alten.
    Das Stimmengewirr verstummte augenblicklich, als der Kapitän der »Babylon« das improvisierte Podest aus Zinkkisten bestieg. Der graubärtige alte Mann trug eine blutverschmierte Jacke, sein Arm war bis zum Ellenbogen verbunden und hing in einer Schlinge. Die Stirn über seinen buschigen Augenbrauen war von tiefen Falten zerfurcht, aber seine Augen glänzten noch immer kalt und stählern.
    Es hätte nicht verwundert, wenn der Kapitän an der Last der Verantwortung für das Schicksal der Überlebenden zerbrochen wäre. Doch der schmächtige alte Mann stand kerzengerade da, bereit, dem Unglück, das über sie alle hereingebrochen war, ins Auge zu sehen. Nur an der krampfhaften Art und Weise, wie er mit der gesunden Hand seinen Waffengurt umklammerte, konnte man erahnen, welche Überwindung es ihn kostete, Haltung zu bewahren. Lange ließ er den Blick über die Versammelten schweifen und verweilte dabei immer wieder auf den Gesichtern jener, die ihm besonders nahestanden. Dann begann er zu sprechen.
    »Brüder und Schwestern! Wir haben einen schwierigen Weg hinter uns. Ängste, Krankheiten und Hunger waren unsere ständigen Begleiter. Doch auch wenn dieser Weg steinig und mühsam war, so hatten wir doch stets ein Ziel vor Augen, für das es sich lohnte, weiterzukämpfen. Was heute passiert ist, hat all unsere Hoffnungen auf eine bessere Zukunft mit einem Schlag zunichtegemacht. Ein solches Unglück hätten wir uns in unseren schlimmsten Albträumen nicht ausmalen können. Unser Zuhause wurde vernichtet. Unsere Verwandten, Liebsten und Freunde auf der Insel sind umgekommen. Viele von uns beklagen den Verlust von Eltern und Großeltern. Wir alle haben unser Dach über dem Kopf verloren.«
    In der versammelten Menge machte sich Unruhe breit. Einige schluchzten leise, andere flehten mit inbrünstigen Gebeten die Gnade des Allmächtigen herbei.
    »Auch unsere Nachbarn hat das Schicksal nicht verschont. Die Infrastruktur derMaly wurde zwar nicht zerstört, und die Strahlung hat die Insel nicht erreicht. Der radioaktive Fallout wird sie trotzdem unbewohnbar machen. Unsere vordringlichste Aufgabe besteht deshalb darin, die kleine Siedlung auf der Maly zu evakuieren, bevor es zu spät ist.«
    »Aber wie soll es dann weitergehen?!«, rief jemand hitzig dazwischen. »Wir haben doch alles verloren!«
    Der Kapitän ließ sich Zeit mit der Antwort. Er musste sich genau überlegen, was er sagte, denn ein falsches Wort konnte in dieser Situation eine Panik auslösen.
    »Wir haben fast alles verloren! Eine Rückkehr wird es für uns nicht geben, das ist richtig . A ber unser wertvollstes Gut kann uns niemand nehmen: unseren Lebensmut. Wir müssen stark bleiben – in diesen schweren Stunden mehr denn je. Vor uns liegt eine wichtige Mission.«
    Im Laderaum herrschte Grabesstille. Die Siedler hingen an den Lippen ihres Anführers.
    »Ihr seid sicher einer Meinung mit mir, dass wir diejenigen, die uns das angetan haben, um jeden Preis finden müssen. Der Tod unserer Angehörigen darf nicht ungerächt bleiben. Eines ist klar: Auf der Moschtschny hat es niemals Kernwaffen gegeben. Lediglich ein Raketenabwehrsystem, und selbst das war schon lange nicht mehr einsatzfähig. Die Bombe wurde von außen auf die Insel gebracht.« Die Wangen des Kapitäns pulsierten. »Wir haben schon seit Jahren keine Überlebenden mehr gefunden. Unser einziger Kontakt mit der Außenwelt bis zum heutigen Tag war die Handelsfahrt nachPiter vor Kurzem. Brüder! Es besteht nicht der geringste Zweifel, dass unser Feind im Untergrund steckt. In einer der obskuren Siedlungen, die sich dort in der Metro eingenistet haben. Wir werden nicht eher ruhen, bis wir diese Bastarde zur Strecke gebracht haben – und wenn wir jeden Winkel in diesen stinkenden Löchern durchkämmen müssen!«
    Beifall brandete auf.
    Der Kapitän hielt inne und beobachtete die Versammelten. Er spürte, dass diese Leute ihm bis ans Ende der Welt folgen würden. Und so erfreulich das war – es bedeutete gleichzeitig eine schwere Bürde für ihn. Was sollte aus jenen werden, die nicht stark genug waren, diesen Weg bis zum Ende zu gehen? Zumal völlig ungewiss war, wie der bevorstehende Kreuzzug ausgehen würde.
    Plötzlich brach in der Nähe eines rostigen Containers ein Tumult aus. Flüche gellten. Einige der Babylonier gingen wütend auf jemanden los, der von der Menge verdeckt wurde, andere stellten sich ihnen in den Weg und stießen die besonders
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