Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Prärie von Los Angeles bis Chicago und zurück. Die Signale in den Stationen blinkten, sooft ein Zug durchkam, und die gestreiften Schranken an den Bahnübergängen schlossen sich.
    1929 besaßen wir bereits zehn komplette Eisenbahnzüge. Mein Lieblingszug war der Blaue Komet. Auch Dad fand, er sei der schönste von allen großen Lionel-Zügen. Die Lokomotive war saphirblau, mit einem blauen Kohlenwagen dahinter. Die Personenwagen trugen Messingschilder mit den Namen der berühmten Astronomen Westphal, Faye und Barnard.Wenn man wollte, konnte man die Dächer abnehmen. Im Innern waren mit Scharnieren versehene Türen, Innenbeleuchtung, verstellbare Sitze und Toiletten mit gewölbten Decken.
    Am Ende des Zuges fügten wir noch einen Panoramawagen an. Dad nahm eine Pinzette und drehte zwei kleine blaue Sitze direkt unter der Plexiglas-Kuppel in die perfekte Aussichtsposition. »Eines Tages, Oscar«, sagte er, »fahren wir nach New York und besteigen den Blauen Komet, und das sind die zwei Sitze, die wir reservieren werden. Auf der ganzen Fahrt, von Anfang bis Ende, wird sich die Atlantikküste vor uns erstrecken. In Atlantic City steigen wir aus. Dann können wir auf der Strandpromenade unsere Porträts malen lassen und am Meer Türkischen Honig essen. Vielleicht an deinem nächsten Geburtstag!«
    Mein nächster Geburtstag kam und ging und Dad und ich verließen Cairo nie, aber in unserer Fantasie fuhren wir den Kontinent hinauf und hinunter und das genügte mir vollkommen. Manchmal legte ich meinen Kopf seitlich, mit dem Ohr nach unten, auf das Gras der Anlage. »Bist du müde, Oscar?«, fragte mein Dad jedes Mal.
    »Nein, ich schaue nur«, antwortete ich immer. »Ich schaue nur.«
    Tatsächlich schloss ich das untere Auge und starrte mit dem oberen Auge in die Personenwagen hinein. Die Waggons waren voll besetzt mit kleinen Zinnfiguren, die als Silhouetten an den Fenstern saßen. Hier waren zwei winzige Frauen, mit Hüten auf den Köpfen, gestikulierend, die Gesichter einander plaudernd zugewandt. Dort las ein Mann die Zeitung. Ein Junge ignorierte den Kellner, der mit einem Tablett vor ihm stand, und blickte mir aus dem Waggon heraus mit stecknadelgroßen Augen entgegen. Auf diese Weise wurde die Anlage lebendig und ich war nicht größer als die Leute und die Züge und die Gebäude, die im Miniaturformat vor mir standen. Ich glaubte wahrhaftig, wenn ich wollte, könnte ich einfach in den Blauen Komet steigen. Ich könnte geradewegs aufs Trittbrett des Zuges springen und ganz weit wegfahren, hinaus in die Weizenfelder der nächtlichen Prärie, hinter der die Rocky Mountains aufragten.
    Die Gewissheit, dass ich das könnte, machte mich zum glücklichsten Jungen von Cairo, ja vom Staate Illinois. Ich, Oscar Ogilvie junior, in der dunklenSicherheit kreisender Züge. Mit meinem Dad neben mir betätigte ich die Schalter und bediente den Transformator, der so groß wie eine Autobatterie war und die Züge vorübersausen, die Signallichter rot und grün aufleuchten ließ und alles auf der Welt möglich machte.

Im Herbst 1929 heulte die Stimme des Wolfs eintausend Meilen weit nach Osten. Irgendetwas war in New York passiert. Die Leute nannten es den Zusammenbruch. Da ich damals erst neun Jahre alt war, wusste ich nicht, was da zusammengebrochen war.
    Dad las mir aus dem Cairo Herald vor. »Millionäre springen vor Verzweiflung aus den Fenstern von Wolkenkratzern«, stand da. »Einige der mächtigsten Geschäftsmänner der Wall Street versetzten ihre Brillant-Manschettenknöpfe. Jetzt verkaufen sie Äpfel an den Straßenecken.«
    »Warum?«, fragte ich.
    »Sie haben ihr ganzes Geld verloren«, sagte Dad.
    Das Radio hörte nicht auf, über den Zusammenbruchzu berichten. Als man es mir erklärte, liefen die Worte wie Regentropfen an meinen Ohren ab, ohne einzusickern.
    »Auf dem Aktienmarkt spekulieren wie Glücksspieler!«, ließ sich Tante Carmen vernehmen. »Es ist ein Werk des Teufels. Kredite. Börsenspekulationen. Kredite sind der Ruin des Gemeinwesens. Diese Finanzhaie sind wie die Wahrsager bei Pferderennen, jeder Einzelne von ihnen!«
    Ich fragte nicht, was ein Finanzhai war oder was Börsenspekulationen bedeutete. Ich hatte genug andere Sorgen. Mein Problem war Mathe. 1929 war für mich das Jahr unlösbarer Mathematikaufgaben. Als Mrs Olderby die Beispiele an die Tafel schrieb, gingen meine Gedanken auf Wanderschaft, zu den Käfern am Fenster und zum Ticken der Wanduhr. Mrs Olderby schlug uns nie, aber umso öfter
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher