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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie
Autoren: dtv
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Carmen.
    »Ich kann dir zeigen, wie die Züge fahren«, sagte ich zu Willa Sue, obwohl ich sie nicht besonders mochte. Willa Sue war von einer Schwester, die kaum jemals erwähnt wurde, zu Tante Carmen gekommen. Einmal schnappte ich eine Bemerkung auf, Willa Sues richtige Mutter könnte sich zusammenreißen und eines Tages vielleicht wieder auftauchen, aber das war nie geschehen, und vom ersten Tag an nannte Willa Sue Tante Carmen Mum . Sie war ein Mädchen mit einem Engelsmund und hielt sich immer mit einer Hand an Tante Carmens Rock fest. Der Daumen ihrer anderen Hand näherte sichzögernd ihrem Mund, worauf Tante Carmen, schnell wie eine Katze, die Mäuse fängt, auf den Daumen losging und ihn wieder nach unten schob.
    »Lass deine Hände zu Hause, Willa Sue, mein Herz«, sagte Tante Carmen.
    »Mädchen mögen keine Eisenbahnen«, lispelte Willa Sue. Der Daumen schoss in den roten Schmollmund und blieb dort volle dreißig Sekunden, während Tante Carmen meinem Dad sagte, was sie davon hielt, dass er sein ganzes Gehalt zum Fenster hinauswarf und all sein gutes Geld in elektrische Eisenbahnen und immer noch mehr elektrische Eisenbahnen steckte.
    »Das, wovon du sprichst, ist die Transkontinentalbahn, Carmen«, sagte mein Dad mit einem Glucksen, während seine Hand sicher und warm hinten auf meinem Hemdkragen lag. Dann zündete sich Dad eine teure Zigarre an, damit Carmen und Willa Sue wieder nach oben gingen.
    Ich für meinen Teil konnte mich nicht entscheiden, ob ich die Sommer- oder die Winterabende lieber mochte. Ich war froh, beide zu haben.
    Von April bis Ende September verfolgten wir im Radio die Baseballspiele der St. Louis Cardinals undder Chicago Cubs. Da unten im Kellergeschoss entging uns kein einziges Spiel, während die Züge im kühlen Dämmerlicht ihre Runden drehten.
    Wenn man durch die zwei Fenster hoch oben in der Wand schaute, konnte man beobachten, wie die langen Sommerabende allmählich vergingen. Wenn wir Luft brauchten, öffneten wir die Fenster und der heiße Wind blies von der Prärie herein.
    »Man kann die Luzernen riechen. Dieser Wind trägt ihren Duft von Kansas bis hierher«, behauptete Dad, während er und ich an Weichen, Gleisreparaturen und dem Einbau von Neuerwerbungen arbeiteten.
    1928 verkaufte Dad einen Schwung Traktoren. Und es verging kaum eine Woche, in der nicht ein roter Karton oder sogar zwei von der Lionel Company in Rochester, New York, ankam. In den Kartons mit Zügen waren immer auch eine Lokführer-Papiermütze mit blauen und weißen Streifen und einige Lionel-Tickets für die Strecke des betreffenden Zuges. Ich setzte die Mützen nie auf, weil ich fand, sie waren für Babys, aber die Tickets waren farbig bedruckt und sahen wie echte Fahrscheine aus. Ich sammelte sie und trug immer mindestensein Dutzend, zusammengehalten mit einem Gummiband, in meiner Brieftasche.
    An Winternachmittagen ging die Sonne unter, bevor ich von der Schule und Dad von der Firma nach Hause kam. Wir aßen zu Abend und redeten über die Arbeit, die vor uns lag. Dann schalteten wir alle Lichter im Haus aus und gingen nach unten. In mondlosen Nächten hätte man auf der Lucifer Street stehen können, ohne zu merken, dass das Haus überhaupt da war. Der Wind heulte durch die einsamen Fichten, genau wie ein Alaska-Wind, dachte ich mir. Unten im Keller standen Dad und ich nebeneinander, auf allen Seiten von Eisenbahnzügen umgeben, die hierhin und dorthin rasten, mit ihren Rauchkügelchen Rauch ausstießen und mit ihren Scheinwerfern Licht auf die Schienen vor ihnen warfen.
    »Horch auf dieses Pfeifen«, sagte Dad oft zu mir. »Das gleiche Pfeifen höre ich draußen auf dem Ackerland. Die Farmer hören es, wenn sie ihr Heu einbringen. Es schallt weithin über die Prärie, bis nach Lincoln und noch weiter. Gute Menschen und schlechte hören es gleichermaßen, in den Kirchen und in den Gefängnissen, ganz so, als wär’s die Stimme des Wolfs.«
    »Was ist die Stimme des Wolfs?«, fragte ich.
    Dad antwortete nicht.
    Unsere Lionel-Züge glichen den wirklichen Eisenbahnzügen in der großen Welt aufs Haar. Sie waren den echten Lokomotiven, Güterwaggons und Personenwagen genau nachempfunden. Jeder war so konstruiert, dass er an seinen Haltestellen hielt, diese dann verließ und den Weg hinauf zu den Kämmen der Rocky Mountains einschlug, über den Colorado River und zurück durch die Tunnels nach Chicago. In der windstillen Kellernacht überquerte der Transkontinental Golden State Limited die weite
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