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Die Rache des Kaisers

Titel: Die Rache des Kaisers
Autoren: Gisbert Haefs
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leichter, sondern noch scheußlicher machten. Mehr konnte ich nicht mitnehmen; mehr als das, was sich in meinem Kopf befand und was ich am Leib trug, hatten die Mörder und Plünderer nicht zurückgelassen.
    Eines gab es noch …, aber da ich die Fremden, die bei mir waren, nicht kannte und ihnen nicht vertraute, konnte ich das Versteck nicht aufsuchen und öffnen. Das wollte ich bei nächster Gelegenheit tun, später, bald.
    Einen Gegenstand allerdings fand ich, den ich mitnehmen konnte und der mir in all den Jahren das Denken und Lachen und Leben erleichtert, oft auch erst ermöglicht hat. Und angeblich war es dieser Gegenstand, der Jorgo und Avram dazu brachte, sich für mich zu verwenden: mich mitzunehmen, zu ihrer Unterhaltung und Erbauung.
    In den Trümmern unseres Hauses fand ich, zu meinem Erstaunen unversehrt, den kleinen harten Kasten mit meiner Fiedel: Freundin, die ich weinen lassen konnte, wenn ich keine Tränen zeigen durfte, die oft spottete, wenn ich ein ernstes Gesicht zu machen hatte, die manchmal Kehlenschlitzer tanzen ließ, bis sie meinen Hals vergaßen, und die zuweilen zwischen mir und dem Hungertod eine Wehr aus Brotstückchen und kleinen Münzen errichtete.
    Fast fünf Jahre des Lernens und des Reisens vergingen, bis ich ins Tal zurückkehrte.

ZWEI
    E he wir die Brücke über die Mosel erreichten, hatte Jorgo noch gespottet: über meine Vorfreude, über meine Erinnerungen an eine große Stadt. »Du wirst sehen, Kleiner, je größer der Zwerg, desto winziger das Dorf.«
    Dann kamen wir zur Brücke, und Jorgo, der eine halbe Länge vorausritt, begann zu fluchen, auf Griechisch und Arabisch, durcheinander. Avram grinste, Kassem schwieg, ich lauschte, um neue Wortfügungen zu lernen.
    »Dieses Land, bah, diese Gegend, von den unfähigen Göttern der Vorzeit aus Kameldung und Eselskotze geformt, mit Bewohnern, deren sämtliche Gedanken nicht einmal ausreichen, eine Nußschale zu füllen. Anderswo gibt es wenigstens anständige Wegelagerer, die man mit dem Degen kitzeln kann, aber hier … Einreisezoll, Ausreisezoll, Fährgeld, Brückenmaut, und jede windschiefe Scheune ist ein eigener Staat. Nicht zu reden von …«
    Kassem unterbrach ihn. »Nicht zu reden, Jorgo. Zu schweigen ist jetzt förderlich und tugendhaft.«
    Jorgo hob eine Hand und verstummte.
    Wir hatten in den letzten Tagen die südlichen Grenzwachen des Erzbischofs und Kurfürsten von Köln bezahlt, daß sie uns reiten ließen, ohne alle Satteltaschen zu durchwühlen und die Waffen einzuziehen. Danach die nördlichen Wächter des Fürstentums Jülich, das bis an den Rhein reichte, Maut für die Benutzung einer Brücke - in Wahrheit ein
aufgeschütteter und mit Knüppeln befestigter Damm, der Lücken der alten Römerstraße über die Ahr schloß -, einer Furt, einer kleinen Fähre, Einreisezoll an der Grenze des Kurfürsten und Erzbischofs von Trier, noch eine Fähre, und nun sahen wir den Mautschuppen am Nordende der Balduinbrücke vor uns.
    Kassem zahlte, wie immer, und im Geiste ergänzte ich die Liste all der Ausgaben, die er in den vergangenen fünf Jahren für mich gemacht hatte. Auf der Brücke trieb ich mein Pferd an, um schneller nach Koblenz zu kommen, in die Stadt, aus der wir - die Familie, geliebte Schatten - in jenes abgelegene Tal geflohen waren. Noch immer wußte ich nicht, was der Grund dafür gewesen sein mochte. Und neben der Freude, die große Stadt meiner Erinnerungen zu sehen, empfand ich eine ungewisse Hoffnung. Darauf, Kenntnisse zu erlangen, Erklärungen, endlich verstehen zu können, was geschehen war, warum, und ob es vielleicht sogar eine Erhellung hinsichtlich des Mordens gäbe.
    Denn nichts von dem, was in den Jahren seither geschehen war, hatte die Bilder und die Gefühle tilgen können. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an das Grauen dachte. Oft wurden die Erinnerungen durch Zufälle ausgelöst - ein aufgeschnapptes Wort, ein Anblick, ein Klang, das Lachen einer Frau. Alle lachenden Frauen waren die Mutter, alle Mädchen die Schwestern, alle Kleinkinder der Bruder, alle Männer … nein, nicht alle; ich hatte zuviel Umgang mit Männern gehabt. Aber viele Männer, aus der Ferne erblickt, oder Männer mit einer bestimmten Haltung, die mir den Rücken zuwandten, waren der Vater. Die meisten Erinnerungen waren jedoch in Gerüchen geborgen. Jeder Hauch von Süße war Brei, und ich sah die Mutter, die den kleinen Bruder fütterte; jeder Braten wurde von meinem Vater gedreht, und einmal,
als ich bei einer
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