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Die Rache des Kaisers

Titel: Die Rache des Kaisers
Autoren: Gisbert Haefs
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dünner. Im Gutshaus, das fast ganz aus Stein gebaut war, hatte das Feuer das Dach gefressen, dann keine weitere Nahrung gefunden und war erloschen.
    Niemand schrie mehr. Es gab Bewegungen dort unten, aber keine Hast oder gar Flucht. Männer stiegen auf Pferde, andere trugen Gegenstände aus halbzerstörten Häusern zu
Karren, und vom Herrenhaus her schwankten Gestalten unter aufgetürmten Lasten.
    Die Sonne stand noch nicht im Zenit. Mittlerer Vormittag; Brandschatzung und Gemetzel mochten etwas mehr als zwei Stunden gedauert haben. Ich fragte mich, wo diese zwei Stunden geblieben waren; es kam mir so vor, als hätte ich mich eben erst in den Farn gelegt.
    Ist es möglich , dachte ich, inwendig so zu gefrieren, daß die Zeit stillsteht? Gibt es zwei Zeiten - eine innere, die gefrieren kann, während die andere, die äußere weiterfließt? Ich konnte mich nicht einmal erinnern, vor diesem Gedanken einen anderen gedacht zu haben. Es war, als höbe ich den Kopf aus einem langen, zähen Strömen des Entsetzens, um nach Luft zu schnappen.
    Die Männer dort unten hatten wahrscheinlich ein paar Karren und Packtiere mitgebracht; sie würden alle nutzbaren Tiere und Fuhrwerke des Dorfs mit Plündergut beladen - und die übrigen? Was sollte mit den Tieren geschehen, die sie nicht mitnahmen?
    Ich schloß die Augen. Warum dachte ich jetzt an Kühe, Schweine und Gänse? Um nicht an die Toten zu denken , sagte ich mir. Ich muß an die Toten denken. Ich will an die Toten denken. Ich möchte …
    Plötzlich füllte ein dumpfes Dröhnen das Tal, eine Welle, die zu mir emporbrandete und dann verebbte. Ich öffnete die Augen und starrte hinunter, sah aber nichts, was diesen Ton hätte verursachen können.
    Wie eine wunde Glocke , dachte ich. Die kleine Kirche!
    Ich konnte das alte Bauwerk nicht sehen, nahm aber an, daß sie auch das Kirchlein angezündet hatten. Die Flammen mußten alles zerstört oder geschwächt haben, und wahrscheinlich war nun die Glocke aus dem Turm gefallen.

    Noch heute erinnere ich mich an die Anblicke und Gerüche, die rauchenden Häuser im Tal, die Riechspur eines Luchses oder einer Wildkatze nicht weit vom Farn, in dem ich lag, den Hauch von Geißblatt im Vormittagswind; und ich erinnere mich an meine Gedanken. Fiebergedanken, deren einziger Sinn es war, nicht an das zu denken, was sich dort unten zugetragen hatte. Denken als Flucht, als Ausweg, zur Verschleierung des Gesehenen; denken, um nicht zu denken; erinnern, um zu vergessen. Ich zählte Farnwedel und bewegte den Kopf, bis eine bestimmte Gruppe von Wedeln genau senkrecht zur Firstlinie des Herrenhauses stand und zwei andere, einzelne, die letzte Rauchsäule zu stützen schienen.
    Und ich dachte an die wunde Glocke. Den Todesseufzer der Glocke, die aus ihrer Befestigung zu Boden stürzte. Aus dem Himmel auf die Erde. In der Kirche - in jeder Kirche, so hatten die Eltern gesagt, als ich kleiner war - wohnte Gott. Und vielleicht wohnte Er nicht in einem kostbaren Gefäß, sondern in den Mauern, im Turm, in der Glocke. Nun, da Seine Behausung zerstört und das Erz, das Ihm als Stimme gedient hatte, gestürzt war, konnte Er nicht mehr dort sein. Vielleicht erfüllte Er das Tal, zu Licht geworden, oder schweifte als Rauch, trauernder Rauch, durch die Reste des Dorfs. Aber das Licht im Tal war nicht anders als sonst, und der meiste Rauch hatte sich verzogen. Wenn Gott nun das Dröhnen gewesen wäre? Verhallt, Gott und der Schall verschollen.
    Hatte Gott aber in der Kirche gewohnt, wie konnte Er dann zulassen, daß all dies geschah? Er hätte es verhindern können und hatte es dennoch geschehen lassen. Waren Ihm die Menschen gleichgültig? Dann sollte Er auch ihnen gleichgültig sein. Oder war all dies eine Prüfung? Für wen?
Außer mir und den Männern dort unten, den Mördern, war niemand mehr übrig. Ein ganzes Dorf ausgelöscht, um mich zu prüfen? Wozu?
    Vielleicht ging es aber gar nicht um mich oder um das Dorf, sondern um jene, die dort geplündert und gemordet hatten. War es eine Prüfung für sie, die sie bestanden oder bei der sie versagt hatten? Welcher Gott würde ein ganzes Dorf abschlachten lassen, um die Schlächter zu prüfen? War es am Ende nicht mein, unser Gott, sondern ihrer - ein Schlächtergott?
    Ich versuchte, mich an Stellen aus der Schrift zu erinnern. Dort gab es so viel Blut, so viel Vernichtung der Feinde Gottes, so viele Heimsuchungen seines Volkes … visitationes populi sui . Eher gleichzeitig als nacheinander kamen mir zwei
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