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Die Prophezeiung der Seraphim

Die Prophezeiung der Seraphim

Titel: Die Prophezeiung der Seraphim
Autoren: Mascha Vassena
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sich zahllose Hände und versuchten, sie zu erhaschen. Auch Fédéric ergatterte eines und las es Julie vor:
    »Der König frisst, die Gattin tanzt,
    Schwenkt hin und her den dicken Wanst,
    Wenn draußen auch das Volk verreckt,
    Das Königspaar kümmert’s einen Dreck.
    Sie riechen Blumen, wir den Tod,
    Der Adel leidet keine Not,
    Muss auch niemals Steuern zahlen,
    Was scheren ihn denn unsere Qualen?
    Ein König, auch von Gottes Gnaden,
    Kann sein Volk nicht so beladen,
    Dass es ganz zusammenbricht,
    Am Ende wird er selbst gericht’.«
    »So ist es!«, brüllte ein grobschlächtiger Mann neben ihnen und schlug Fédéric auf die Schulter. »Die werden uns noch vom Schafott aus grüßen, die hohen Herrschaften!« Er schien geradezu trunken vor Wut, um ihn leuchtete ein blutiges Rot. Fédéric lachte über seine Worte, aber Julie hielt ihm rasch den Mund zu. Wer wusste, ob sich nicht Spitzel unter den Zuschauern befanden?
    »Willst du etwa einen Kopf kürzer gemacht werden? Das auch nur zu lesen, ist schon Hochverrat!«, flüsterte sie.
    »Was kümmert mich das, es ist schließlich die Wahrheit!«, antwortete Fédéric.
    »Nieder mit den Tyrannen!«, rief nun der Mann auf dem Fass. »Wir brauchen keinen König, wir regieren uns selbst!«
    Die Menge bewegte sich unruhig, Rufe der Zustimmung wurden laut. Julie spürte die aufbrandende Wut der Menschen. Über den Köpfen waberte inzwischen ein schwarz-rotes Leuchten, das ihr Angst einjagte. Der Redner fuhr fort, gegen den Adel zu hetzen, und nun jubelte ihm die Menge zu. Gerade als Julie Fédéric bitten wollte, zu gehen, schrie jemand: »Soldaten!« Sofort brach ein Tumult aus, weil alle versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Die Menge wogte wie ein sturmgepeitschtes Meer und riss Julie und Fédéric einfach mit.
    »Halt mich fest!« Julie streckte die Hand nach Fédéric aus, doch dieser wurde zwischen zwei Leibern eingeklemmt und von ihr fortgetragen. Ellbogen stießen ihr in die Seite, sie verlor erst einen Schuh, dann ihre Haube in dem Gewühl. Gerade sah sie noch, wie das Fass umgestoßen wurde und der Redner in der Menge verschwand, dann ging sie selbst unter. Während sie ihre Finger in die Jacke eines Unbekannten krallte, um nicht unter die Füße zu geraten, versuchte sie um Hilfe zu rufen – doch der Druck der Menge presste ihr die Luft aus den Lungen. Ihr Gesicht wurde gegen fremde Bäuche gedrückt, und sosehr sie auch zappelte, sie bekam keinen Fuß mehr auf den Boden. Julie schloss die Augen, sicher, im nächsten Moment zerquetscht zu werden.
    Wenn die Leute sich nur beruhigen würden! Noch während ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, überkam sie eine eigenartige Ruhe. Sie vernahm das Geschrei der Menge nicht mehr und fühlte keinen Schmerz, wenn sie hin und her gestoßen wurde. Kühl und machtvoll breitete sich Gelassenheit in ihr aus, und dann fühlte es sich an, als würde etwas in ihr platzen. Plötzlich ließ der Druck auf ihren Körper nach, sie konnte wieder frei atmen und sich aufrichten. Überrascht öffnete Julie die Augen und sah sich von einem blauen Licht umgeben, das sich wie eine Welle über die Menschen ergoss. Sobald das Licht sie überflutete, wurden ihre Bewegungen langsamer, träger, so, als überkäme sie eine unwiderstehliche Müdigkeit. Immer mehr Leute hielten inne und blickten um sich, ganz so, als hätten sie vergessen, weshalb sie eigentlich hier waren.
    Julie atmete tief ein und sah sich staunend um. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie selbst die Quelle des eigenartigen Lichts war, das niemand außer ihr wahrzunehmen schien. Doch es veränderte all jene, die von ihm erfasst wurden: Während weiter entfernt noch Leute aufschrien und sich in wilder Flucht gegenseitig herumstießen, rieben sich die Menschen in Julies Nähe die Augen, starrten vor sich hin oder kratzten sich am Kopf. Sie wirkten ebenso verwirrt, wie Julie sich fühlte. Das blaue Licht versiegte, und jetzt schmerzte ihr ganzer Körper, als hätte sie stundenlang Holz gehackt. Was habe ich gerade getan ? , dachte sie fassungslos.
    Als sie an sich hinabblickte, um zu kontrollieren, ob sie unversehrt war, sah sie etwas Weißes auf sich zuflitzen. Songe! Wie war die Katze nur den stampfenden Füßen entgangen?
    Komm mit, ich bringe dich hier raus, sagte Songe lautlos. Während Julie der Katze folgte, fiel ihr auf, dass das blaue Licht jetzt wie ein dünner Schleier über der Menge lag und sich nach und nach auflöste. Die Leute erwachten aus ihrer
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