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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin
Autoren: Iny Lorentz
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hatte. Sie empfand große Achtung vor dem ältesten Sohn des Bürgermeisters, und das war gut so, denn ihr Vater und Koloman Laux waren willens, sie mit Damian zu verheiraten. Wahrscheinlich wäre der Ehevertrag längst aufgesetzt worden, hätte die Krankheit ihres Vaters dies nicht verhindert. Die geplanteVerbindung war zumindest einer der Gründe, die Tilla dazu trieben, so innig für seine Genesung zu beten. Ihr Bruder kam mit Koloman Laux und dessen Söhnen nicht gut aus und favorisierte Veit Gürtler als Bewerber um ihre Hand.
    Damian Laux war gewiss nicht der Mann, dem sie himmelhoch jauchzend ihr Jawort geben würde, aber er war ihr tausendmal lieber als Otfrieds Freund. Gürtler war fünfzehn Jahre älter als Sebastians Bruder, hatte ein barsches, hochfahrendes Wesen und sollte seiner ersten, vor einem Jahr verstorbenen Frau das Leben zur Hölle gemacht haben.
    Sebastian stupste die in Gedanken verlorene Tilla an. »Du bist so in dich gekehrt! Steht es so schlecht um deinen Vater?«
    »Es ging ihm heute schon um einiges besser als in den letzten Wochen«, versicherte Tilla ihm nicht ganz wahrheitsgemäß. »Doktor Gassner hat ihm den Theriaktrunk besorgt, den auch der Leibarzt des bayerischen Herzogs verwendet. Da muss mein Vater ja wieder gesund werden.«
    »Wollen wir es hoffen! Seine Stimme wird dringend im Rat benötigt. Gürtler schwingt jetzt dort das große Wort, und der Mann ist …« Sebastian schluckte, denn beinahe hätte er Geheimnisse preisgegeben, die ein weibliches Wesen nichts angingen.
    »Ach, das verstehst du nicht!«, sagte er mit einer wegwerfenden Handbewegung.
    Es juckte Tilla in den Fingern, ihm seine Überheblichkeit mit einer kräftigen Maulschelle auszutreiben. Da sie sich damit aber in eine Reihe mit jenen keifenden Weibern gestellt hätte, die zum Pranger verurteilt wurden, wenn sie es besonders schlimm trieben, wandte sie sich grußlos ab und ging weiter. Dieser grüne Junge hatte ihr wertvolle Zeit gestohlen, die sie besser bei ihrem Vater verbracht hätte.
    Sebastian stiefelte hinter ihr her, wobei er selbst nicht wusste,warum er es tat, und betrachtete sie zuerst von hinten und dann von der Seite. Zuletzt überholte er sie, um in ihr Gesicht sehen zu können. Da sie die Frau seines Bruders und damit seine Schwägerin werden würde, hatte er seiner Meinung nach das Recht, sie näher in Augenschein zu nehmen. Er kam zu dem Schluss, dass Damian es hätte schlechter treffen können, auch wenn Tilla für seinen Geschmack zu groß war. Wenn sie sich gegenüberstanden, konnte er gerade noch über ihren Scheitel hinwegsehen, aber nur, wenn er etwas nach oben blickte. Auch war sie viel zu dünn für eine richtige Frau. Unter ihrem bodenlangen, braunen Kleid mit dem grauen Mieder zeichneten sich weder ihr Hintern noch ihr Busen so ab, wie es bei den anderen Mädchen ihres Alters der Fall war. Ihr Gesicht war schmal, die Nase etwas zu lang und die Lippen waren so blass, dass sie sich kaum von der Haut abhoben. Auch blickten ihre Augen viel zu kühl und zu durchdringend für eine Frau. Dazu hatte sie ihre hellblonden Haare zu straffen Zöpfen geflochten, die kaum etwas von ihrer Fülle verrieten. Sie passt zu Damian, sagte Sebastian sich schließlich, denn sie ist genauso langweilig wie er.
    Tilla nahm wahr, wie abschätzig ihr Begleiter sie musterte, und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie wie ein Strich wirkten. Ihr war klar, dass sie nicht besonders attraktiv war, doch in ihren Kreisen war das ohne Bedeutung. Bei der Mitgift, die ihr Vater ihr zugeschrieben hatte, würden sich selbst dann geeignete Bewerber einstellen, wenn sie so hässlich wäre wie die Sünde. Ein Patrizier achtete bei seinem Eheweib auf andere Vorzüge als ein hübsches Gesicht und eine gute Figur. Ihre Magd Ilga konnte mit beidem aufwarten und würde doch froh sein müssen, wenn sie einen Mann fand, der bereit war, sie zu heiraten. Jeder Bewerber, der ein Häuschen in der Stadt besaßund sich Bürger nennen konnte, durfte auf Ilgas Hand hoffen, selbst wenn er bucklig war und ein schiefes Gesicht hatte.
    Während die jungen Leute sich mit Blicken maßen, als hätten sie es mit Ferkeln auf dem Markt zu tun, wanderten sie stumm nebeneinander her. Das Dach des Willinger-Anwesens kam schon in Sicht, als ein Mann aus dem Tor eines großen Hauses trat und auf sie aufmerksam wurde. Bei Tillas Anblick krauste er die Stirn, trat ihr in den Weg und streckte ihr den Arm entgegen.
    »Gott zum Gruße, Jungfer
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