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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin
Autoren: Iny Lorentz
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mitnehmen?«
    Da Otfried weniger an Kleidung und dergleichen dachte, sondern an das Geld und die Schätze, die er während seiner Herrschaft angehäuft hatte, lehnte er Rias Angebot rüde ab und scheuchte sie fort. Er sah nicht mehr, wie die Alte sich gegen die Stirn tippte und davonschlurfte, sondern nahm seinen Mantelsack und stopfte wahllos hinein, was ihm von Wert erschien. Als er nach unten gehen wollte, um auch noch den Inhalt der Geldtruhe mitzunehmen, klang draußen eine ihm bekannte Stimme auf. Tilla?, dachte er verblüfft. Aber das ist doch nicht möglich!
    Bei ihren nächsten Worten zuckte er wie unter einem Schlag zusammen, stürzte ans Fenster und starrte ins Freie. Der Platz vor dem Haus wurde von vielen Fackeln erleuchtet und daher entdeckte er sie sofort. Sie trug die Pelerine einer Santiago-Pilgerin, und daran hing deutlich sichtbar die Jakobsmuschel. Bei dem Mann neben ihr benötigte er einige Augenblicke, bis er in ihm Sebastian Laux erkannte. Nun begriff er, wie das Unglück geschehen hatte können, denn die Kleidung und das Auftretendes jüngeren Laux-Sohnes drückten sehr deutlich aus, wer hinter der Befreiung der Stadt steckte.
    Tillas Anklagen ließen Otfried aufwimmern wie einen getretenen Hund. Er wich vom Fenster zurück und rannte ohne seinen Mantelsack aus der Kammer. In seiner Panik verwechselte er die Türen und fand sich plötzlich in Eckhardt Willingers früherem Schlafgemach wieder. Das Licht der Fackeln auf dem Vorplatz zauberte flackernde Schatten auf die Gegenstände, und für einige Augenblicke glaubte Otfried den Vater vor sich zu sehen, der sich gerade aus dem Bett erhob.
    »Nicht ich habe dich umgebracht, Vater! Veit Gürtler war es. Ich konnte ihn nicht daran hindern.« Tränen liefen ihm über die Wangen und versiegten auch nicht, als er bemerkte, dass er nur einem Spiel von Licht und Schatten aufgesessen war. Das Grauen, das ihn gepackt hatte, steigerte sich sogar noch, als wolle sein Vater ihn noch aus dem Jenseits für Gürtlers und seine Tat bestrafen und auch für all deren Folgen. Um sich dem Zorn des Toten zu entziehen, sprang er mit einem Satz auf den Flur hinaus und schloss die Kammertür. Ein Blick durch eines der Fenster zum Hof zeigte ihm, dass das Haupthaus bereits umstellt war. Also konnte er auch den Lebenden nicht mehr entkommen.
    Ihm war bewusst, was er von seinen Mitbürgern und seiner racheheischenden Schwester zu erwarten hatte, und die Angst schüttelte ihn wie einen leeren, nassen Sack. In seiner Panik suchte er nur noch nach einem Ort, an dem er sich verkriechen konnte, und so lief er die Treppen zum Speicher empor, öffnete die Falltür und schloss sie beinahe lautlos hinter sich, um niemand auf sich aufmerksam zu machen. Aber auch hier fiel das Licht der Fackeln durch die Fenster und die Ritzen der Luken und malte zitternde Schatten an Decken und Wände, die nachihm zu greifen schienen. Am ganzen Körper bebend rollte er ein großes Fass auf die Falltür, um sie zu blockieren. Dann tappte er ziellos umher, während ihn aus allen Ecken die Gesichter der Toten höhnisch angrinsten. Sein Vater, Damian Laux, Ilga und sogar Veit Gürtler und Radegund schienen zurückgekehrt zu sein, um Rache an ihm zu nehmen oder ihn den Qualen auszuliefern, die ihn in den Händen der Leute da unten erwarteten. Aber er wollte weder von den wütenden Bürgern zerrissen noch als Vatermörder mit gebrochenen Gliedmaßen aufs Rad geflochten werden. Mit einem Mal fand er sich an der Stelle wieder, an der Ilga ihr klägliches Ende gefunden hatte, und er glaubte, ihre bleiche, nackte Gestalt von einem Balken herabhängen zu sehen. Als er nach der Erscheinung griff, hielt er ein Seil in den Händen und ließ es los, als habe er sich daran verbrannt. Für einen Augenblick atmete er auf. Alles, was er zu sehen glaubte, war wohl doch nur eine Einbildung seiner überreizten Sinne. Nur der Strick war echt. Es war der, mit dem er Ilga erwürgt hatte. Er schwang leicht hin und her, als wolle er nach ihm greifen.
    Otfried packte das Seil und hielt es fest. Unten klang das Geschrei der Menge auf, die nun die Tür zum Hof erbrach. Auch die vordere Haustür zersplitterte unter harten Hieben, obwohl sie gar nicht verriegelt gewesen war. Gleich würden sie das Haus stürmen, und dann hielt das Fass auf der Falltür sie nicht mehr lange auf. Wenn sie ihn erwischten, würden sie ihn tagelang foltern, ehe sie ihn einem schrecklichen Tod auslieferten. Er sah schon Tilla hohnlachend dabeistehen
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