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Die Pilgerin

Titel: Die Pilgerin
Autoren: Iny Lorentz
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nicht mehr schaffen. Er soll froh sein, wenn er überhaupt am Leben bleibt.« Das klang so herzlos, dass der ältere Herr verärgert den Kopf schüttelte. Wohl wusste er, dass nicht alles eitel Freude war im Hause Willinger, doch dem Sohn hätte etwas mehr Ehrfurcht vor dem Vater durchaus angestanden. Otfrieds Worte wären auch außerhalb des Krankenzimmers ungehörig gewesen, sie aber dem Vater ins Gesicht zu sagen, zeugte von einem erschreckenden Mangel an der gebotenen Ehrfurcht.
    »Ich hoffe und bete, dass dein Vater wieder ganz gesund wird. Der Rat unserer Stadt braucht ihn dringend, vor allem jetzt in diesen unsicheren Zeiten.« Das war eine verbale Ohrfeige für den jungen Willinger, denn laut Stadtrecht würde Otfried nachdem Tod seines Vaters dessen Ratssitz einnehmen. Koloman Laux, Bürgermeister von Tremmlingen und der beste Freund des Kranken, hielt nicht viel von dessen Sohn und hoffte, diesen nicht so schnell im Hohen Rat der Stadt sitzen zu sehen.
    Otfried bedachte Laux mit einem bösen Blick, senkte dann den Kopf und bemühte sich zu versichern, auch er wäre froh, wenn sein Vater die Krankheit überwinden und das Heft im Hause Willinger wieder in die Hand nehmen könne.
    »Das wird auch geschehen!« Der Kranke blickte den Arzt auffordernd an. »Jetzt gib mir schon deinen Theriak. Wenn er den Herzog wieder auf die Beine gebracht hat, wird er auch mir helfen. Hol meinen Becher, Tilla!«
    Während das Mädchen die Kammer verließ, gelang es Willinger, seinem Gesicht den Anschein eines Lächelns zu geben. »Unser Herr Jesus wird mich nicht zu sich rufen, bevor ich mein Gelübde erfüllt habe.«
    »Das walte Gott! Mögen er und der heilige Kilian dir noch viele Jahre guten Wirkens schenken!« Laux’ Stoßgebet verriet, dass sein Vertrauen in die Himmelsmächte ebenfalls größer war als in die Fähigkeiten des Arztes.
    Otfried sah nicht so aus, als wolle er sich den frommen Wünschen des Bürgermeisters anschließen, doch er schluckte eine abwertende Bemerkung hinunter, denn in diesem Augenblick kehrte Tilla mit dem Lieblingsbecher ihres Vaters zurück und übergab ihn Lenz Gassner. Der Arzt maß etwas von dem Saft ab und reichte ihn dem Kranken. Willinger war jedoch so schwach, dass Tilla ihm das Gefäß an den Mund halten musste.
    »Wenn die Medizin so wirksam ist, wie sie grässlich schmeckt, werdet ihr mich wohl kaum mehr lange im Bett halten können«, stöhnte er, während er sich von seiner Tochter die Kissen richten ließ.
    Da sein Patient nun die Augen schloss, nahm der Arzt die Gelegenheit wahr, sich zu verabschieden. »Es warten noch andere Kranke auf meinen Besuch«, erklärte er bedeutungsschwer und verließ die Kammer. Otfried hielt es ebenfalls nicht mehr in der Krankenstube. Unter dem Vorwand, einige kürzlich eingetroffene Geschäftsbriefe lesen zu müssen, verschwand auch er und ließ seinen Vater mit Tilla und Laux allein zurück.
    Willinger wirkte eine Weile so, als sei er eingeschlafen, doch als der Bürgermeister sich verabschieden wollte, riss er die Augen auf und befahl seiner Tochter barsch, ihm ein weiteres Kissen in den Rücken zu stecken. Laux hielt seinen Freund fest, damit Tilla der Bitte nachkommen konnte. Der Kaufmann erwies sich jedoch als zu kraftlos, um ohne Hilfe aufrecht sitzen zu können. Mit einem Laut, der weniger Schmerz als Enttäuschung verriet, ließ er sich in die Polster sinken, die Tilla hinter ihm aufgestapelt hatte.
    »Es will nicht mehr!«, stöhnte er mit bebenden Lippen. »Wenn Gott kein Wunder tut, werde ich dieses Bett nicht mehr lebend verlassen. Aber wenn ich die Pilgerreise nicht vollenden kann, bin ich verloren!«
    »Muss es denn wirklich das Grab des heiligen Jakobus sein?« Tillas Frage erzürnte Willinger. Er packte ihr Handgelenk und hätte sie wohl durchgeschüttelt, wäre er bei Kräften gewesen.
    »Ja! Ich habe eine schwere Schuld auf mich geladen, die nur in Santiago de Compostela getilgt werden kann. Als mein Vater gestorben ist, war es sein letzter Wille, dass ich dorthin pilgern und für seine Seele beten soll, denn er war ein harter Geschäftsmann und hat so manchen Konkurrenten mit rüden Methoden beiseite geschoben. Ich aber habe über seinen Wunsch gelacht und bin im Lande geblieben. Nicht einmal einen Ersatzpilger habe ich an meiner Stelle geschickt, wie es etliche andere tun! Stattdessen habe ich Vaters Wunsch als Hirngespinst abgetanund ihn schließlich vergessen. Just einen Tag aber, bevor mich dieses Fieber niederwarf, habe ich
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