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Die Pension am Deich: Frauenroman

Die Pension am Deich: Frauenroman

Titel: Die Pension am Deich: Frauenroman
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Niesattacke lässt sich nicht aufhalten. Anne hält schützend das erste Taschentuch zwischen Nase und Laptop und wird von einem Hatschi zum nächsten geschüttelt. Nach der Offensive hat sie einen Berg nasser Tücher vor sich liegen und fühlt sich schlagkaputt. Sie hasst diese blöde Übersensibilität.
    Die Wohnungstür klappt. Anne schaut auf die Uhr. Schon nach eins und sie hat noch keinen brauchbaren Absatz geschrieben.
    «Hi, Mum, wir hatten früher Schluss«, begrüßt Lisette sie gutgelaunt. Wie gewohnt visiert ihre Tochter als Erstes den Kühlschrank an, um den Inhalt zu überprüfen. Wie immer so lange, als wären die vorrätigen Lebensmittel für sie völlige Neuerscheinungen.
    »Jetzt hat’s dich aber wieder erwischt«, stellt sie mit einem abschätzenden Blick auf ihre tränende Mutter fest. Die nickt leidend und schnäuzt sich demonstrativ die Nase.
    »Na ja, du würdest ja sowieso nur vorm Rechner sitzen«, tröstet Lisette sie leger. Dabei lehnt sie sich für einen Augenblick an die Küchenanrichte. Die Kühlschranktür lässt sie geöffnet. Anne bemüht sich, es zu übersehen. Sie hat keine Kraft für einen Vortrag über Energieverschwendung.
    »Ja, ich sitze vor dem Rechner«, antwortet sie stattdessen. »Das ist absolut korrekt ausgedrückt. Mit der Betonung auf davor. Ich bekomme nämlich nichts geschrieben. Mein Kopf scheint nur aus Schleim zu bestehen. Dabei soll mir eine romantische Liebesszene gelingen. In einem Monat ist Abgabetermin und es fehlen noch 100.000 Zeichen. Ich hasse den Frühling und ich hasse Liebesromane!«
    Ihre Tochter wirft lachend ihre langen, braunen Locken nach hinten. Ein Erbe ihrer Mutter. Beide haben die gleiche Haarpracht.
    »Bleib locker, Mum. Du bekommst die Story schon hin. Du liebst deine Schnulzen. Dafür brauchst du ja nicht viel Hirn. Probier es mal mit Heilfasten. Das hat Maries Mum auch geholfen. Ihre Allergie ist seitdem wie weggezaubert.«
    Lisette wendet sich wieder dem gekühlten Angebot zu, schnappt sich einen Joghurt und klappt endlich die Kühlschranktür schwungvoll zu. Bevor Anne eine passende Antwort auf die Lebensweisheiten ihrer Tochter einfällt, ist sie in ihrem Zimmer verschwunden.
    Anne lässt ihr Taschentuch sinken. Vielen Dank auch, denkt sie ärgerlich. Nicht das Hirn gebrauchen! Was denn sonst? Sie kann nicht aus einem reichhaltigen Liebesrepertoire schöpfen. Dafür ist sie schon zu lange alleinlebend. Und alleinerziehend, ergänzt sie. Ihre Geschichten sind fiktiv. Frei erfunden, unterstreicht Anne trotzig und verdrängt, dass sie selbst eine dieser, ach, so realitätsfernen Liebesgeschichten erlebt hat. Allerdings ohne das Happy End, das sie ihren Protagonistinnen stets vergönnt. Anne weigert sich auch, ihre Sehnsucht einzugestehen. Sehnsucht, ihre eigene, ganz große Lovestory noch einmal zu erleben. Dieser Herzenswunsch ist ihre eigentliche Triebfeder, um solche Romane zu schreiben.
    Nach dem Germanistikstudium vor siebzehn Jahren hat Anne nicht ihr Referendariat als Deutschlehrerin angetreten. Nein, sie ist Hals über Kopf einem charmanten Niederländer auf sein Hausboot nach Amsterdam gefolgt. Da war sie sechsundzwanzig. Nach drei Jahren ist sie mit der damals einjährigen Lisette nach Deutschland zurückgekehrt.
    »Du liebst doch deine Schnulzen«, äfft sie ihre Tochter nach und steht auf, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Worüber regt sie sich auf? Lisette nimmt sie als Schriftstellerin nicht ernst. Das ist nichts Neues. Lisette findet es sogar peinlich, dass ihre Mutter Liebesromane schreibt. Peinlich. Was Lisette peinlich findet, finanziert schlicht und einfach ihren Lebensunterhalt.
    Das einzig Tröstliche ist nach Meinung ihrer Tochter, dass sie unter einem Pseudonym schreibt: Linda Loretta.
    »Wenn du wenigstens ansatzweise Gesellschaftskritik mit einbringen würdest, einen gewissen Realismus«, hört Anne sie im Geiste referieren. »Deine Frauen haben immer genug Knete und absolut keine Probleme, außer ihren Mister Right zu finden.«
    Realismus. Als würde ihre fünfzehnjährige Tochter den kennen. Sie kennt nur die abgehobenen Literaturbesprechungen ihres Deutschlehrers. Den sie ganz nebenbei gnadenlos anhimmelt.
    Eine erneute Niesattacke lenkt Anne von ihren immer wütenderen Gedankengängen ab. Sie flüchtet ins Badezimmer und schaufelt sich mit beiden Händen Wasser in das glühende Gesicht. Das kühlende Nass tut gut. Danach vergräbt sie es in einem Frotteehandtuch. Am liebsten, bis der Pollenflug vorbei
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