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Die Nordischen Sagen

Die Nordischen Sagen

Titel: Die Nordischen Sagen
Autoren: Katharina Neuschaefer
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und griff nach Odins Hand. Odin aber nutzte die Gelegenheit und trat dem Riesen, der sich nunmehr nur noch mit einer Hand festhielt, ins Gesicht. Der junge Riese schwankte unter der Wucht des göttlichen Tritts, konnte sich allein mit der linken Hand nicht mehr am Fels halten und rutschte ab. Ymirs kaltes Blut riss ihn mit sich, und er kam nicht wieder an die Oberfläche.
    Vili und Ve, die den Schrei des Stürzenden gehört hatten, sahen Odin fragend an, als er wieder zurückkehrte. Odin aber zuckte nur die Achseln und sagte: »Er hätte dasselbe für mich getan.«
    Von ihrem Gipfelplatz aus beobachteten die Götterbrüder, wie nach und nach alle Reifriesen ertranken. Noch zwei- oder dreimal versuchten einige von ihnen, den Bergrücken hinaufzuklettern und sich in Sicherheit zu bringen, aber Odin erschlug sie, noch bevor sie einen sicheren Stand gefunden hatten. Manche trieben, an Eisblöcke geklammert, auf den Wellen vorbei, doch nicht einmal sie fanden Gnade. Odin machte ein Spiel daraus, ihre Eisblöcke mit besonders gekonnten Blitzwürfen zum Schmelzen zu bringen, sodass sie in die Flut zurücksanken und untergingen.
    Mit der Zeit jedoch wurden Odin und seine Brüder müde. Sie achteten nicht mehr auf die verwüstete Landschaft oder die Toten, die der Blutstrom an ihrem Hochsitz vorbeiführte, und nach einer Weile schliefen sie ein. So kam es, dass ihnen der ausgehöhlte Baumstamm entging, der auf dem Blutstrom trieb. Zwei Gestalten saßen darin: eine Riesin mit langen blonden Zöpfen und ein hässlicher Kerl, dessen Körper über und über mit Fell bedeckt war. Sein Name war Bergelmir, der wie ein Bär Brüllende. Bergelmir war anders als die anderen Riesen, er war schlau und geschickt. Als Einziger hatte er erkannt, dass die Zeit der Reifriesen abgelaufen war. Und während die anderen noch versuchten, vor dem Blutstrom aus Ymirs Wunde davonzulaufen, höhlte er einen gewaltigen Baumstamm aus, setzte sich mit seinem Weib hinein wie in ein Boot und schwamm auf der Flut davon. Und niemand bemerkte ihn. Er aber, Bergelmir, der letzte Überlebende der Reifriesen, er würde es sein, der eines Tages ein neues Riesengeschlecht zeugen würde. Eines Tages.
    Es dauerte lange, bis Ymirs Blut versiegte, bis die Flut zurückging und das versunkene Land wieder freigab. Die Ebenen gefroren wieder zu Eiswüsten, die Berge trockneten ab, und alles war wie zuvor, nur dass im Norden Niflheims nun ein See lag. Ein See so unendlich groß und tief, dass selbst die Götter seine Ausmaße nicht benennen konnten. Ein See, der eigentlich ein Meer war.Odin sah sich erschöpft um. Die Götter hatten über die Riesen gesiegt und waren nun frei zu tun, was sie wollten.
    »Das Palastbauen verschieben wir auf später. Zuerst müssen wir etwas Größeres in Angriff nehmen.«
    Er deutete auf Ymirs Leichnam und wies Vili und Ve an, ihm zu folgen.
    »Was willst du denn damit?«, fragte Vili verwundert, als Odin begann, am toten Körper des Urriesen herumzuzerren.
    »Frag nicht. Fass an. Ich will nicht, dass er hier liegen bleibt.« Mit einer ungeduldigen Handbewegung forderte Odin seine beiden Brüder auf, ihm zu helfen.
    Ve aber blieb stehen und blickte Odin verständnislos an.
    »Warum werfen wir ihn nicht einfach in die Ginnungagap? Dann ist er weg, und wir haben keinen Ärger mehr.«
    »Weil wir ihn noch brauchen«, stieß Odin zwischen den Zähnen hervor, während er einen Arm des Riesen packte und versuchte, Ymir hinter sich herzuschleifen. »Wir bringen ihn zum Ufer des Blutmeeres. Dort nehmen wir, was wir brauchen, und den Rest könnt ihr dann in die Ginnungagap werfen.«
    Noch immer verstanden Vili und Ve nicht, was Odin vorhatte, aber sie wagten nicht noch einmal zu widersprechen und taten, was Odin von ihnen verlangte.
    Am Strand des eisigen Meeres begann Odin, den toten Urriesen zu zerlegen, um aus dem Stoff seines Körpers neue Welten zu formen.
    Ymirs Blut war von selbst zu Meeren und Flüssen geworden,sein Fleisch wurde in Odins Händen zu Erde. Dann hoben die Brüder die Schädeldecke des Riesen hoch über das Land und schufen daraus den Himmel. Natürlich schwebte Ymirs Schädeldach nicht einfach so über der Erde. Wenn die Götter losgelassen hätten, wäre es sofort heruntergefallen.
    »Wir brauchen Säulen, die das Himmelsdach an allen vier Enden tragen«, schlug Ve vor. »Das sieht bestimmt auch sehr schön aus.«
    »Ich habe eine bessere Idee«, sagte Odin und lächelte seinen Brüdern verschwörerisch zu. »Warum nehmen wir
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