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Die Nebel von Avalon

Titel: Die Nebel von Avalon
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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klein vor. Die Hirten glaubten, die Burg sei vom Alten Volk erbaut worden, den Bewohnern der versunkenen Länder Lyonness und Ys. Die Fischer erzählten, an klaren Tagen könne man weit draußen ihre Burgen tief im Wasser sehen. Aber Igraine hielt sie für Felsentürme, für uralte Berge und Hügel, die das ewig vordringende Meer verschlungen hatte; das Meer, das selbst jetzt die Klippen unter der Burg aushöhlte. Hier am Ende der Welt, wo das Meer unaufhörlich das Land fraß, fiel es nicht schwer, an die versunkenen Länder im Westen zu glauben. Es gab Geschichten von einem großen, feuerspeienden Berg weit im Süden, der ein großes Land unter sich begraben hatte. Igraine wußte nie, ob sie diesen Geschichten Glauben schenkte oder nicht.
    Ja, sie hörte Stimmen im Nebel. Es konnten nicht die barbarischen Räuber sein, die über das Meer oder von den wilden Küsten Irlands kamen. Die Zeit war längst vorbei, als ein unbekanntes Geräusch oder ein Schatten sie ängstigen mußte. Es war nicht ihr Gemahl, der Herzog. Er war weit im Norden und kämpfte an der Seite von Ambrosius Aurelianus, dem Großkönig von Britannien, gegen die Sachsen. Er hätte ihr Boten geschickt, um seine Rückkehr anzukündigen.
    Sie brauchte sich nicht zu fürchten. Die Soldaten und Wachen im Fort auf der Landseite des Damms, die Herzog Gorlois dort stationiert hatte, um Frau und Kind zu beschützen, hätten feindliche Reiter aufgehalten. Nur einem Heer wäre es gelungen, sie zu überwältigen. Und wer würde ein Heer ausschicken, um Tintagel zu erobern? Es gab eine Zeit – und Igraine erinnerte sich ohne Bitterkeit daran, während sie langsam den Burghof betrat –, da hätte sie gewußt, wer sich der Burg näherte. Der Gedanke stimmte sie jetzt kaum noch traurig. Seit Morgaines Geburt weinte sie nicht mehr aus Heimweh. Und Gorlois war freundlich zu ihr. Er hatte ihre anfängliche Angst und ihren Haß besänftigt. Er hatte ihr Schmuck, schöne Dinge und Kriegsbeute geschenkt; er hatte sie mit Hofdamen umgeben, die ihr zu Diensten standen, und sie immer als Gleichgestellte behandelt – nur nicht im Kriegsrat. Mehr hätte sie sich nicht wünschen können – es sei denn, sie hätte einen Mann aus den Stämmen geheiratet. Und in diesem Punkt hatte man ihr keine Wahl gelassen. Als Tochter der Heiligen Insel mußte sie tun, was das beste für ihr Volk war, gleichgültig, ob dies bedeutete, als Opfer zu sterben, ihre Jungfräulichkeit in der Heiligen Ehe hinzugeben, oder einen Mann zu heiraten, wenn man hoffte, dadurch ein Bündnis zu festigen. Dies hatte Igraine getan. Sie hatte den romanisierten Herzog von Cornwall zum Mann. Obwohl Rom sich aus Britannien zurückgezogen hatte, lebte er nach römischer Sitte. Sie ließ den Umhang von ihren Schultern gleiten; der schneidende Wind konnte in den Hof nicht eindringen, und deshalb war es hier wärmer. Der Nebel wogte, lichtete sich, und plötzlich stand eine Gestalt, hervorgetreten aus Nebel und Dunst, vor ihr. Es war ihre Halbschwester Viviane, die Herrin vom See, die Herrin der Heiligen Insel.
    »Schwester!« Igraine legte die Hände an die Brust. Ihre Stimme bebte, und sie wußte, daß sie nicht laut gerufen, sondern geflüstert hatte: »Sehe ich dich wirklich vor mir?«
    Ihr Gesicht wirkte vorwurfsvoll, und der Wind hinter den Mauern schien die Worte davonzutragen.
    Igraine, hast du aus freien Stücken der Sehergabe entsagt?
Gekränkt durch die Ungerechtigkeit des Vorwurfs, erwiderte Igraine: »Ihr habt mir befohlen, Gorlois zu heiraten…«, aber die Gestalt der Schwester hatte sich bereits schattenhaft verflüchtigt. Sie war nicht da, war nie dagewesen. Igraine blinzelte. Die kurze Erscheinung war verschwunden. Sie zog den Mantel eng um sich; ihr war kalt, eiskalt. Sie wußte, die Vision hatte ihre Kraft aus der Wärme und dem Leben ihres eigenen Körpers gezogen. Igraine dachte:
Ich wußte nicht, daß ich immer noch auf diese Weise sehen kann. Ich war sicher, es nicht mehr zu können.. .
Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie wußte, Vater Columba würde es für ein Werk des Teufels halten, und sie hatte es ihm zu beichten. Gewiß, hier am Ende der Welt waren die Priester nicht so streng. Aber eine verheimlichte Vision wäre sicher etwas Sündhaftes.
    Sie seufzte. Warum eigentlich sollte sie im Besuch ihrer Schwester ein Werk des Teufels sehen? Vater Columba konnte sagen, was er wollte; vielleicht war sein Gott weiser als er. Und das, dachte Igraine und unterdrückte ein Lachen, konnte
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