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Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)

Titel: Die Nacht gehört dem Drachen (German Edition)
Autoren: Alexia Casale
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der Küche aufzuräumen, und bitte Miss Winters dann, mir beim Aufstellen des Mahjong-Spiels zu helfen.
    Während Miss Winters den Tisch abräumt, hole ich die Schachtel, und als ich die Spielsteine auskippte, dröhnt es wie ein Monsunregen. Wir lachen befangen über den Lärm, als wir uns bücken, um die auf den Fußboden gefallenen Steine aufzuheben. Das Gespräch, das wir vermutlich gleich führen werden, steht uns beiden bevor.
    Ich habe plötzlich das Bedürfnis, gemein zu sein. Was zum Teil an der Anspannung und zum Teil daran liegt, dass mich seit Monaten eine bestimmte Frage beschäftigt. Ich hocke mich hin und lasse die Steine liegen. »Kennen Sie Onkel Ben von irgendwo?«, frage ich. »Sind Sie einander begegnet, bevor er mir das Buch über Dalí gebracht hat?«
    »Oh«, sagt Miss Winters und blinzelt, als müsste sie ihre Gedanken von Fionas Grab losreißen. »Ich habe auch darüber nachgedacht, aber um ehrlich zu sein, weiß ich es nicht genau«, sagt sie. »Ich weiß es einfach nicht. Manchmal habe ich das Gefühl, ihm tatsächlich schon mal begegnet zu sein – ich hatte mehrmals das Gefühl, ihn wiederzuerkennen und umgekehrt –, aber ich komme nicht darauf. Vielleicht haben wir irgendwann einmal im Supermarkt über Apfelsinen geplaudert. Wir wohnen und arbeiten nicht weit voneinander entfernt, und deshalb wäre es verwunderlich, wenn wir uns nie im Vorübergehen oder auf der Straße gesehen hätten, aber …« Sie zuckt mit den Schultern.
    Ich erwidere ihr Lächeln und überprüfe, ob alle Spielsteine mit dem Gesicht nach unten liegen. Doch als ich aufschaue, blickt Miss Winters wieder mit dieser Miene wehmütiger Zärtlichkeit zum Fenster, die mir schon einmal ein Rätsel aufgegeben hat. Heute mischen sich allerdings Neugier und Humor mit hinein. Dann straffen sich plötzlich die Muskeln ihres Kiefers, und in ihre Augen tritt noch etwas anderes: ein Anflug von Hoffnung und von Staunen, der sich in Sehnsucht verwandelt. Ich schaue weg und widme mich wieder dem Spiel.
    »Heute habe ich endlich Fionas Grab besucht«, sage ich, während ich die Mauer aus Spielsteinen richte, die ich gebaut habe.
    Danach warte ich ab. Ich weiß genau, dass Miss Winters auf meine Worte eingehen wird, denn die Verlockung ist zu groß, obwohl sie vermutlich glaubt, etwas zu verderben, wenn sie außerhalb unserer regulären Treffen mit mir über diese Themen spricht. Aber sie ist jetzt nicht nur meine Lehrerin. Seit diesem Abend nicht mehr. Schon vorher nicht mehr. Sie ist eine Freundin, und sie wird irgendwann zur Familie gehören. Sie mag sich dessen noch nicht sicher sein, aber das macht nichts. Denn ich bin mir dessen sicher, und das reicht für alle.
    »Ich war sehr überrascht, als Amy mir am Telefon von deinem Vorhaben erzählt hat, aber ich nehme an, dass du schon länger daran gedacht hast«, sagt sie schließlich, und ich lächele und frage mich insgeheim, wann sie endlich mit Onkel Ben zusammen sein wird und wann Amy und Paul mir die Frage erlauben, ob ich Brautjungfer sein darf.
    Miss Winters scheint ihre Worte sorgsam abzuwägen, als sie sagt: »Hoffentlich bist du im Nachhinein nicht enttäuscht.« Die Spielsteine sind aufgestellt, und sie sinkt auf das Sofa. »Man steigert sich leicht in Hoffnungen und Erwartungen hinein, nur um schließlich festzustellen, dass die Wirklichkeit hinter dem zurückbleibt, was man sich vorgestellt hat.«
    Sie schaut mich besorgt an, doch ich lächele, und nach einer Weile erwidert sie mein Lächeln.
    Ich hocke mich auf die Hacken und drücke den Drachen fest in meiner Hand. »Das ist manchmal so, ja«, erwidere ich. »Aber manchmal ist die Kluft zwischen Phantasie und Wirklichkeit gar nicht so groß.«
    Als ich an diesem Abend zu Bett gehe, sehe ich, dass der Spruch aus dem Glückskeks auf meinem Wecker liegt.
    Ich schaue den Drachen an, ziehe eine Augenbraue hoch. »Hast du den Zettel dorthin gelegt?«, frage ich.
    Der Drache schnaubt Rauch aus. Er tut das jetzt manchmal. Ich weiß immer noch nicht genau, was es bedeutet. Vielleicht ist es eine Art von Schnurren, aber er würde bestimmt nicht antworten, wenn ich ihn frage.
    Ich nehme den Zettel, ziehe die große Bettschublade auf und tue ihn wieder in meine Geheimkiste. Aber am Ende hocke ich im Schneidersitz auf dem Bett und gehe meine Schätze durch. Bis ich auf das Streichholzheftchen aus dem chinesischen Restaurant stoße. Zu meiner Verwunderung ist es zerknittert und ein bisschen schmutzig. Der Streifen zum Anreißen ist
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