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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman
Autoren: Fred Vargas
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erschöpfenden Versuche, sie aus der Schnur zu befreien, die bereits tief ins Fleisch geschnitten hatte. Sie war unterernährt und dehydriert, man würde sehen, was man tun könnte, hatte Retancourt geschlossen. Adamsberg nickte, er presste kurz die Lippen aufeinander wie jedes Mal, wenn er der Grausamkeit begegnete. Und dieses Stück Schnur gehörte dazu.
    Veyrenc folgend, ging die kleine Frau mit instinktivem Respekt an der riesigen Polizistin vorbei. Die massige Frau war schon dabei, das Tier in ein feuchtes Tuch zu hüllen. Später, meinte sie zu Veyrenc, würde sie sich seine Beine vornehmen, um den Bindfaden herauszulösen. Von Violette Retancourts breiten Händen umschlossen, versuchte die Taube keinerlei Bewegung. Sie ließ alles über sich ergehen, wie jeder es getan hätte, ebenso ängstlich wie voll Bewunderung.
    Die Frau nahm, nun schon etwas ruhiger, in Adamsbergs Büro Platz. Sie war so schmal, dass sie nur die Hälfte des Stuhls einnahm. Veyrenc postierte sich in einer Ecke und überschaute den Ort, der ihm vertraut gewesen war. Es blieben ihm noch dreieinhalb Stunden, um sich zu entscheiden. Eine Entscheidung, die er laut Adamsberg schon getroffen hatte, aber noch nicht kannte. Als er eben den großen Gemeinschaftssaal durchschritten hatte, war er dem feindseligen Blick von Commandant Danglard begegnet, der in den Aktenordnern wühlte. Nicht nur seine Verse mochte Danglard nicht, er hatte etwas gegen ihn selbst.

3
    Die Frau hatte am Ende eingewilligt, ihren Namen zu nennen, und Adamsberg notierte ihn auf irgendeinem Blatt, eine Nachlässigkeit, die sie beunruhigte. Vielleicht hatte der Kommissar ja gar nicht die Absicht, sich mit ihr zu befassen.
    »Valentine Vendermot, mit einem ›o‹ und einem ›t‹«, wiederholte er, denn er hatte so seine Schwierigkeiten mit neuen Wörtern und mehr noch mit Eigennamen. »Und Sie kommen aus Ardebec.«
    »Ordebec. Im Calvados.«
    »Sie sagten, Sie haben Kinder?«
    »Vier. Drei Jungen und ein Mädchen. Ich bin Witwe.«
    »Was ist vorgefallen?«
    Wieder griff die Frau zu ihrer großen Tasche und zog eine Lokalzeitung heraus. Sie faltete sie leicht zitternd auseinander und legte sie auf den Tisch.
    »Um diesen Mann geht es. Er ist verschwunden.«
    »Wie ist sein Name?«
    »Michel Herbier.«
    »Ein Freund von Ihnen? Ein Verwandter?«
    »O nein. So ziemlich das Gegenteil.«
    »Das heißt?«
    Adamsberg wartete geduldig auf die Antwort, die schwierig zu formulieren schien.
    »Ich verabscheue ihn.«
    »Ah, sehr gut«, sagte er und nahm sich die Zeitung.
    Während Adamsberg sich auf den kurzen Artikel konzentrierte, betrachtete die Frau mit besorgten Blicken die Wände, besah sich die rechte, dann die linke Wand, ohnedass Adamsberg den Grund dieser Inspektion verstand. Irgendetwas machte ihr schon wieder Angst. Angst vor allem. Angst vor der Stadt, Angst vor den anderen, Angst vor dem Was-werden-die-Leute-sagen, Angst vor ihm. Wie er auch noch nicht verstanden hatte, warum sie bis hierher gekommen war und ihm von diesem Michel Herbier erzählte, wenn sie ihn hasste. Der Mann, Rentner, besessener Jäger, hatte mit seinem Mofa das Anwesen verlassen und war seitdem verschwunden. Nach einer Woche Abwesenheit waren die Gendarmen zu einer Sicherheitskontrolle bei ihm eingedrungen. Der Inhalt seiner beiden Gefriertruhen, die vollgestopft gewesen waren mit Wildbret aller Art, lag gänzlich über den Boden verteilt. Das war alles.
    »Da kann ich mich nicht einmischen«, sagte Adamsberg entschuldigend, indem er ihr die Zeitung zurückgab. »Wenn dieser Mann verschwunden ist, verstehen Sie, dann ist dafür zwangsläufig die örtliche Gendarmerie zuständig. Und was auch immer Sie wissen, müssen Sie denen dort sagen.«
    »Das ist unmöglich, Herr Kommissar.«
    »Sie verstehen sich nicht gut mit der örtlichen Gendarmerie?«
    »So ist es. Darum hat der Vikar mir Ihren Namen genannt. Darum habe ich auch diese Reise gemacht.«
    »Um mir … was zu sagen, Madame Vendermot?«
    Die Frau strich ihre geblümte Bluse glatt und senkte den Kopf. Das Sprechen fiel ihr leichter, wenn man sie nicht ansah.
    »Was mit ihm passiert ist. Oder passieren wird. Er ist tot, oder aber er wird sterben, wenn man nichts unternimmt.«
    »Allem Anschein nach ist der Mann einfach weggefahren, denn sein Mofa steht nicht mehr da. Weiß man, ob er irgendwelche Sachen mitgenommen hat?«
    »Nichts außer einem seiner Gewehre. Er hat viele Gewehre.«
    »Dann wird er nach einiger Zeit wiederkommen, MadameVendermot.
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