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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin
Autoren: Kelley Armstrong
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hören, ein gelegentliches Flüstern und Lachen. Ich kann warme Haut an meiner Haut spüren, einen nackten Fuß, der über meiner Wade liegt, zuckend in einer geträumten Bewegung. Ich kann sie riechen: ihren Duft, ihren Atem, gemischt mit dem Geruch vom Blut irgendeines Wildes, das bei der Jagd getötet wurde. Das Bild zerstiebt, und ich starre in ein Schaufenster und sehe nichts als mein eigenes Spiegelbild. Die Brust zieht sich mir zusammen vor Einsamkeit, so tief und so vollkommen, dass ich nicht mehr atmen kann.
    Ich drehe mich um und schlage nach dem nächstbesten Gegenstand. Eine Straßenlaterne zittert und hallt wider unter dem Schlag. Schmerz schießt brennend meinen Arm entlang. Willkommen in der Wirklichkeit – bei der Wandlung in Hinterhöfen, der verstohlenen Rückkehr in meine Wohnung. Ich bin dazu verdammt, zwischen zwei Welten zu leben. Auf der einen Seite liegt die Normalität. Auf der anderen ist ein Ort, an dem ich sein kann, was ich bin, ohne Furcht vor Vergeltung, wo ich selbst Morde begehen könnte, und diejenigen um mich herum würden kaum mit der Wimper zucken, wo ich sogar dazu ermutigt würde, wenn es gälte, die Unversehrtheit dieser Welt zu schützen. Aber ich habe sie verlassen.
    Als ich mich auf den Rückweg mache, versengt meine Wut bei jedem Schritt den Straßenbelag. Eine Frau, die sich unter einem Haufen schmutziger Decken zusammengerollt hat, späht ins Freie, als ich vorbeigehe, und zieht sich instinktiv wieder in ihr Nest zurück. Als ich um die Ecke biege, treten zwei Männer auf die Straße hinaus und schätzen mein Beutepotenzial ab. Ich widerstehe der Versuchung, sie anzuknurren, aber nur mit Mühe. Ich gehe schneller, und offenbar kommen sie zu dem Schluss, dass ich die Jagd nicht wert bin. Ich sollte nicht hier sein. Ich sollte zu Hause im Bett liegen, nicht um vier Uhr morgens durch Toronto streifen. Keine normale Frau würde so etwas tun. Es ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass ich nicht normal bin. Nicht normal. Ich blicke die dunkle Straße entlang, und ich kann einen Zettel an der Telefonkabine in fünfzehn Meter Entfernung lesen. Nicht normal. Ich fange den Geruch frischen Brotes aus einer Meilen entfernten Bäckerei auf, die gerade mit der Produktion beginnt. Nicht normal. Ich bleibe vor einem Ladenfenster stehen, greife nach einer der Eisenstangen, mit denen es vergittert ist, und spanne die Muskeln. Das Metall stöhnt in meiner Hand. Nicht normal. Nicht normal. Die Worte sind zu einem Singsang in meinem Kopf geworden; ich geißele mich mit ihnen. Die Wut wird nur noch größer.
    Vor meiner Wohnungstür bleibe ich stehen und atme tief ein. Ich darf Philip nicht wecken. Und wenn es doch passiert, darf ich mich so nicht blicken lassen. Ich brauche keinen Spiegel, um zu wissen, wie ich aussehe: die Haut gespannt, das Gesicht gerötet, die Augen flammend von der Wut, die in letzter Zeit auf jede Wandlung zu folgen scheint. Ganz entschieden nicht normal.
    Als ich die Wohnung schließlich betrete, höre ich seinen gleichmäßigen Atem im Schlafzimmer. Er schläft noch. Ich habe das Bad fast erreicht, als das Atemgeräusch ins Stocken gerät.
    »Elena?« Seine Stimme ist ein schlaftrunkenes Krächzen.
    »Geh nur schnell ins Bad.«
    Ich versuche an der Tür vorbeizuschlüpfen, aber er hat sich aufgesetzt und späht kurzsichtig zu mir herüber. Er runzelt die Stirn.
    »Angezogen?«, fragt er.
    »Ich bin rausgegangen.«
    Ein Augenblick des Schweigens. Er fährt sich mit einer Hand durch das dunkle Haar und seufzt. »Das ist doch gefährlich. Verdammt noch mal, Elena. Wir haben drüber geredet. Weck mich auf, und ich komme mit.«
    »Ich muss aber allein sein. Zum Nachdenken.«
    »Es ist gefährlich.«
    »Ich weiß. Es tut mir Leid.«
    Ich schleiche ins Bad und bleibe dort länger als nötig. Ich gebe vor, die Toilette zu benutzen, wasche mir die Hände mit genug Wasser, um einen Whirlpool zu füllen, und entdecke, dass einer meiner Fingernägel sorgfältig gefeilt werden muss. Als ich schließlich der Ansicht bin, dass Philip wieder eingeschlafen sein dürfte, gehe ich zum Schlafzimmer zurück. Die Nachttischlampe ist an. Er lehnt an seinem Kissen, die Brille auf der Nase. Ich zögere in der Tür. Ich kann mich nicht dazu überwinden, das Zimmer zu betreten, zu ihm zu gehen und neben ihm ins Bett zu kriechen. Ich hasse mich selbst dafür, aber ich kann es nicht. Die Erinnerung an die Nacht ist noch gegenwärtig, und ich fühle mich fehl am Platz hier. Als ich mich nicht von
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