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Die Nacht der Wölfin

Die Nacht der Wölfin

Titel: Die Nacht der Wölfin
Autoren: Kelley Armstrong
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Hinterhöfe sind zu beengt. Mein Herz hämmert vor unverbrauchter Anspannung. Die Beine schmerzen vor angestauter Energie. Ich muss rennen.
    Ein Windstoß bläst von Süden heran und bringt den scharfen, herben Duft des Ontario-Sees mit sich. Ich erwäge, zum Strand zu gehen, stelle mir vor, den Sandstreifen entlangzurennen, zu spüren, wie das eiskalte Wasser gegen meine Pfoten schlägt, aber es ist zu gefährlich. Wenn ich rennen will, muss ich bis zur Schlucht gehen. Es ist weit weg, aber ich habe wenig Auswahl, wenn ich mich nicht für den Rest der Nacht in nach Mensch riechenden Hofeinfahrten herumdrücken will. Ich wende mich nach Nordwesten und mache mich auf den Weg.
    Fast eine halbe Stunde später stehe ich auf einer Hügelkuppe. Meine Nase zuckt; sie nimmt die Überreste eines verbotenen Laubfeuers wahr, das in einem Hof in der Nähe glimmt. Der Wind fährt durch meinen Pelz, kühl, beinahe kalt, belebend. Über mir donnert der Verkehr über eine Autobahnbrücke. Unten liegt meine Zuflucht, eine abgeschiedene Oase mitten in der Stadt. Ich mache einen Satz vorwärts, stoße mich ab. Endlich kann ich rennen.
    Meine Beine haben ihren Rhythmus gefunden, bevor ich den Hang auch nur zur Hälfte hinter mir habe. Ich schließe eine Sekunde lang die Augen und spüre, wie der Wind über meine Schnauze streicht. Das Aufschlagen meiner Pfoten auf der harten Erde lässt winzige Schmerzpfeile meine Beine hinaufschießen, aber sie geben mir das Gefühl, am Leben zu sein, wie ein abruptes Aufwachen nach einem überlangen Schlaf. Die Muskeln strecken und kontrahieren sich in vollkommener Harmonie. Jedes Strecken bringt einen leichten Schmerz und eine Explosion von körperlichem Wohlbefinden mit sich. Mein Körper dankt mir für die Bewegung und belohnt mich mit fast narkotischen Adrenalinstößen. Je länger ich renne, desto leichter fühle ich mich; die Schmerzen bleiben zurück, als berührten meine Pfoten den Boden nicht mehr. Noch während ich am Grund der Schlucht entlangjage, habe ich das Gefühl, bergab zu rennen, Energie zu gewinnen, statt sie abzugeben. Ich will rennen, bis alle Anspannung in meinem Körper davonfliegt und nichts als die Empfindungen des Augenblicks zurückbleiben. Ich könnte nicht innehalten, selbst wenn ich wollte. Aber ich will ja gar nicht.
    Totes Laub prasselt unter meinen Pfoten. Irgendwo im Wald ruft leise eine Eule. Sie hat die Jagd hinter sich und ruht sich aus, zufrieden und ohne sich darum zu kümmern, wer von ihrer Anwesenheit weiß. Ein Kaninchen kommt aus einem Dickicht geschossen und hat meinen Weg schon halb gekreuzt, bevor es seinen Fehler bemerkt und zurückspringt ins Unterholz. Ich renne weiter. Mein Herz hämmert. Gegen meine ansteigende Körpertemperatur fühlt sich die Nachtluft eiskalt an; sie schneidet, als sie durch die Nüstern in meine Lungen braust. Ich atme tief ein und genieße den Schock, als die Kälte auf meine Eingeweide trifft. Ich renne zu schnell, um etwas zu wittern. Geruchsfetzen flattern durch mein Hirn in einer wüsten Montage, die nach Freiheit riecht. Ich kann nicht widerstehen; irgendwann komme ich zum Stehen, werfe den Kopf zurück und heule. Die Musik ergießt sich aus meiner Brust, ein greifbarer Ausdruck reinster Lebensfreude. Sie hallt durch die Schlucht und steigt auf in den mondlosen Himmel, lässt alle und jeden wissen, dass ich hier bin. Mir gehört dieser Ort! Als ich fertig bin, lasse ich den Kopf sinken, keuchend vor Anstrengung. Ich stehe noch da und starre hinunter auf die verstreuten gelben und roten Ahornblätter, als ein Geräusch meine Versunkenheit durchbricht. Es ist ein Knurren, ein leises, drohendes Knurren. Es gibt einen Rivalen um meinen Thron.
    Ich blicke auf und sehe einen gelbbraunen Hund ein paar Meter entfernt stehen. Nein, keinen Hund. Mein Hirn braucht eine Sekunde, aber schließlich erkenne ich das Tier. Ein Kojote. Ich brauche deshalb eine Sekunde, um ihn zu erkennen, weil er so unerwartet kommt. Ich habe zwar gehört, dass es in der Stadt Kojoten gibt, aber ich bin noch nie einem begegnet. Der Kojote ist ebenso verwirrt. Tiere können mich nicht einordnen. Sie riechen Mensch, sehen aber Wolf, und gerade wenn sie entschieden haben, dass ihre Nase ihnen einen Streich spielt, sehen sie mir in die Augen und sehen Mensch. Wenn ich Hunden begegne, greifen sie entweder an, oder sie ziehen den Schwanz ein und rennen fort. Der Kojote tut keins von beiden. Er hebt die Schnauze und schnuppert, dann sträubt er das Fell und zieht
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