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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Autoren: Anita Shreve
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einen Sturzhelm und war mit einem Fallschirm ausgerüstet – nicht dass
ein Fallschirm zehn Meter über dem Boden noch irgendetwas genützt hätte. Ein Jahr
lang fand Sydney die Luftrennen bizarr und aufregend. Im Lauf des zweiten Jahrs
bekam sie Angst. Bei dem Gedanken an ein drittes Jahr und eventuell ein Kind sah
sie Andrew in Flammen sterben und sagte: Genug . Ihr Flieger
schien das Ende ihrer Ehe ehrlich zu bedauern, aber man konnte ja von ihm nicht
erwarten, dass er das Fliegen aufgeben würde.
    Ihren zweiten Mann lernte Sydney mit sechsundzwanzig kennen. Auf dem
Massachusetts Turnpike platzte der rechte Vorderreifen ihres Wagens, und sie lenkte
an den Straßenrand. Eine Minute später fuhr jemand von hinten auf ihren Honda Civic
auf. Da sie vor dem Wagen stand und sich den geplatzten Reifen ansah, wurde sie
umgestoßen und ein kurzes Stück über das Pflaster geschleift. Daniel Feldman, der
ihr in der Notaufnahme des Newton-Wellesley-Krankenhauses die Kleider vom Körper
schneiden musste, machte ihr Vorwürfe, dass sie auf einer Brücke angehalten hatte.
Eine Woche später führte er sie zum Essen ins Biba in
Boston.
    Als sie acht Monate verheiratet waren und Daniel im Beth Israel Medical
Center seine Assistenzzeit absolvierte, erlitt er eine tödliche Hirnblutung infolge
eines geplatzten Aneurysmas. Sydney, die telefonisch davon erfuhr, war betäubt von
dem Schock.
    Die meisten Leute sind taktvoll genug, Sydney gegenüber keine Bemerkung
darüber zu machen, welch eine Ironie es ist, dass sie sich von dem einen Mann scheiden
ließ, weil sie fürchtete, er würde sterben, nur um einen anderen zu heiraten, der
genau an dem Ort gestorben ist, wo er eigentlich hätte gerettet werden müssen. Aber
sie merkt, dass Mr. Edwards gern über die Sache sprechen würde. Bei all seiner
Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit kann er es sich nicht verkneifen, mit den Einzelheiten
zu kokettieren.
    »Fliegt der Pilot noch?«, fragt er eines Abends beim Geschirrspülen.
»Sagten Sie, dass Ihr Mann seine Assistenzzeit am Beth Israel gemacht hat?«
    Mrs. Edwards dagegen schreckt nicht vor der direkten Frage zurück.
    »Sind Sie Jüdin?«, hat sie gefragt, als sie Sydney in ihr Zimmer führte.
    Sydney wusste nicht recht, welche Antwort Mrs. Edwards vorgezogen hätte:
Jüdin zu sein war interessanter; keine Jüdin zu sein, akzeptabler.
    Der Arzt war Jude. Der Flieger nicht.
    Sydney ist beides. Sie hat einen jüdischen Vater, von dem sie die Wangenknochen,
und eine unitarische Mutter, von der sie die blauen Augen hat. Sogar Sydneys Haar
scheint zu gleichen Teilen von Vater und Mutter vererbt – die widerspenstigen Locken,
das seltsam farblose Blond. Sydney wurde Bar-Mizwa, religionsmündig, bevor ihre
Eltern sich trennten, aber als Teenager wurde sie strikt nach den Mustern der WASPs
erzogen, der elitären White Anglo-Saxon Protestants . Sie
sieht beide Phasen ihres Leben als Kindheitsepisoden, die wenig zu tun haben mit
der Welt, wie sie ihr heute begegnet. Weder die eine noch die andere Religion war
bei Scheidung und Tod im Geringsten hilfreich.
    Nicht unähnlich einem Fallschirm bei zehn Metern Höhe.
    Im letzten Sommer war Sydney eine Woche bei Daniels Eltern in Truro zu
Besuch. Es war ein nobler Versuch. Mrs. Feldman, die von ihr kurzzeitig Mom genannt wurde, meinte, es müsse ihr ein Trost sein, Sydney
bei sich zu haben. Das Gegenteil war der Fall. Sydneys Anblick löste bei Mrs. Feldman
ansteckende Weinkrämpfe aus.
    Nach Daniels Tod weigerte sich Sydneys eigene Mutter über Tage, an die
schlichte Tatsache seines Todes zu glauben, sodass Sydney ihr stets von Neuem sagen
musste, dass David an einer Hirnblutung gestorben war.
    »Aber wie denn?«, fragte ihre Mutter immer wieder.
    Sydneys Vater kam zur Beerdigung mit dem Zug aus New York. Er trug einen
graubraunen Trenchcoat, setzte zum Gottesdienst eine Jarmulke auf, und zu ihrer
Verwunderung weinte er. Später, beim Essen, versuchte er, sie zu trösten.
    »Ich bin überzeugt, dass du dich nicht so leicht unterkriegen lässt«,
sagte er bei Steak und gebackener Kartoffel.
    Nach diesen beiden Schicksalsschlägen, Scheidung und Tod, verfiel Sydney
in einen Zustand emotionaler Lähmung, in dem sie unfähig war, ihre Dissertation
in Entwicklungspsychologie zu vollenden, und ihre Teilnahme am Graduiertenprogramm
an der Brandeis-Universität aufgeben musste. Seither hat sie Gelegenheitsjobs angenommen,
die Freunde und Verwandte ihr verschafft haben, Arbeiten, für die sie entweder
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