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Die Mglichkeit einer Insel

Die Mglichkeit einer Insel

Titel: Die Mglichkeit einer Insel
Autoren: Michel Houellebecq
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Datenverarbeitungsgeräts das Gedächtnis downloaden zu wollen, um statt dessen einerseits einen direkten Molekültransfer vorzunehmen und andererseits das weiterzuentwickeln, was uns heute unter dem Namen Lebensbericht bekannt ist und was zunächst nur als einfache Ergänzung, als vorläufige Lösung, konzipiert war, aber in Anlehnung an die Arbeiten von Pierce große Bedeutung gewann. Seltsamerweise sollte dieser entscheidende Fortschritt auf dem Gebiet der Logik somit eine alte Form wieder zur Geltung bringen, die im Grunde dem ziemlich nahe kommt, was früher eine Autobiographie genannt wurde.
    Was den Lebensbericht angeht, gibt es keine festgelegten Regeln. Er kann an einem beliebigen Punkt der Zeitlichkeit beginnen, ebenso wie der erste Blick einen beliebigen Punkt im Raum eines Gemäldes fixieren kann; wichtig ist dabei nur, daß die Gesamtheit nach und nach ans Licht kommt.
     

Daniel1,2
    »Wenn man sieht, welchen Erfolg
    die Sonntage ohne Auto und die
    Spaziergange auf den Uferstraßen haben,
    kann man sich gut vorstellen,
    wohin das führt…«
    Gérard — Taxifahrer
    Ich kann mich heute beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, warum ich meine erste Frau geheiratet habe; wenn ich ihr auf der Straße begegnete, würde ich sie vermutlich nicht einmal wiedererkennen. Manche Dinge vergißt man einfach, vergißt sie tatsächlich; die Annahme, daß alles im Gedächtnis gespeichert wird, ist ein Irrtum; manche, sogar die meisten Begebenheiten werden ganz einfach getilgt, sie hinterlassen keine Spur, als hätte es sie nie gegeben. Um auf meine Frau zurückzukommen, meine erste Frau jedenfalls, glaube ich sagen zu können, daß wir zwei oder drei Jahre zusammengelebt haben; als sie schwanger wurde, habe ich sie fast augenblicklich sitzen lassen. Ich hatte damals noch keinen Erfolg, und daher hat sie nur eine dürftige Unterhaltsrente bekommen.
    An dem Tag, an dem mein Sohn Selbstmord beging, habe ich mir Rührei mit Tomaten zubereitet. »Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe«, meint der Prediger Salomo zu Recht. Ich hatte dieses Kind nie geliebt: Es war so dumm wie seine Mutter und so gemein wie sein Vater. Sein Tod war wirklich keine Katastrophe; auf solche Menschenwesen kann man verzichten.
    Nach meinem ersten Auftritt vergingen zehn Jahre, die von sporadischen, ziemlich unbefriedigenden Abenteuern gekennzeichnet waren, ehe ich Isabelle kennenlernte. Ich war damals neununddreißig und sie siebenunddreißig; ich hatte großen beruflichen Erfolg. Als ich die erste Million Euro verdient hatte (damit meine ich, als ich sie wirklich verdient hatte, nach Abzug der Steuern und sicher angelegt), begriff ich, daß ich keine Figur aus Balzacs Romanen war. Eine Balzacsche Figur, die gerade eine Million Euro verdient hätte, würde darüber nachgrübeln, wie sie an die zweite Million herankommt, zumindest traf das auf die meisten von ihnen zu — mit Ausnahme der wenigen, die von dem Moment an zu träumen beginnen, in dem sie in zweistelligen Zahlen rechnen können. Ich dagegen fragte mich vor allem, ob ich meine Karriere nicht abbrechen könnte — ehe ich beschloß, es nicht zu tun.
    In den ersten Phasen meines Aufstiegs zu Ruhm und Reichtum hatte ich gelegentlich die Freuden des Konsums genossen, durch die sich unser Zeitalter den vorangegangenen so überlegen zeigt. Man konnte endlos die Frage wälzen, ob die Menschen in den früheren Jahrhunderten glücklicher waren als wir oder nicht; man konnte das Verschwinden der Religionen oder die Schwierigkeiten, sich zu verlieben, kommentieren, die Vor- und Nachteile dieser Entwicklung gegeneinander abwägen; konnte das Aufkommen der Demokratie, den Verlust des Sinns für das Heilige, den Zerfall der sozialen Bande anführen. Ich hatte es übrigens in vielen meiner Sketche, wenn auch in humoristischer Form, getan. Man konnte sogar den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt in Frage stellen und den Verdacht äußern, daß die Verbesserungen in der Medizin zum Beispiel die soziale Kontrolle verstärkt und ganz allgemein die Freude am Leben verringert haben. Es ließ sich jedoch nicht leugnen, daß das 20. Jahrhundert auf dem Gebiet des Massenkonsums allen anderen Jahrhunderten überlegen war: In keiner anderen Zivilisation, zu keiner anderen Epoche hatte es etwas gegeben, das sich mit der Perfektion eines schnell reagierenden zeitgenössischen Einkaufszentrums vergleichen ließ, das auf Hochtouren lief. Ich hatte also mit dem Konsumrausch Bekanntschaft
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