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Die Meisterin der schwarzen Kunst

Die Meisterin der schwarzen Kunst

Titel: Die Meisterin der schwarzen Kunst
Autoren: Guido Dieckmann
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mehr gab, drang die Kälte ungehindert ins Innere. In der Wohnstube gab es einen festgemauerten Kamin, doch es war nicht möglich, ein Feuer anzuzünden; irgendetwas verstopfte den Schlot. Angeekelt betrachtete Agatha den Unrat, der überall herumlag. Ein Fest für die Ratten.
    «Der Gestank ist abscheulich», beklagte sie sich. «Ich werde hier kein Auge zumachen.» Sie überließ es Hahn, den Karren zu entladen. Energisch nahm sie Lutz an der Hand und durchquerte mit ihm die Stube. Wenige Augenblicke später hörte Hahn ihren Schrei.
    Erschrocken ließ er das Bündel fallen, das er soeben zu den Decken hatte legen wollen, und stürzte auf die Tür zu, durch die seine Frau verschwunden war.
    Er fand Agatha in einem kleinen Raum, gleich neben der Wohnstube.
    Bleich stand sie neben der Tür, den Blick starr auf den Herrgottswinkel geheftet, aus dem ein leises Wimmern und Stöhnen erklang.
    Hahn machte ein paar Schritte auf den Winkel zu. Vor Angst zog sich sein Magen krampfartig zusammen. Was beim heiligen Tisch des Herrn lauerte dort drüben? Im Zwielicht erkannte er einen Berg aus zerknüllten Decken und Fellen, die einen ekelhaften Gestank von verbranntem Fleisch absonderten. Zweige und Blätter verteilten sich um das Lager.
    Der kleine Lutz schien als Einziger im Raum keine Angst zu haben. Im Gegenteil, er begann plötzlich zu lachen.
    «Kind», krähte der Kleine fröhlich und zeigte mit dem Finger auf die Felle. «Wie Lutz!»
    Tatsächlich kam unter der Ansammlung von Decken und Fellen der Kopf eines Mädchens zum Vorschein. Voller Furcht sah sie Hahn und Agatha an. Erst als ihr Blick auf Lutz fiel, wich die Besorgnis aus ihrem kleinen Gesicht. Sie lächelte nicht, schien aber zu begreifen, dass ihr keine Gefahr drohte.
    «Gott sei gedankt», entfuhr es Hahn. Auf wackeligen Beinen ging er auf das Kind zu und streckte ihm die Hand entgegen.
    «Bleib zurück!», kreischte Agatha schrill.
    Das Mädchen zuckte zusammen. Sie war ein wenig jünger als Lutz. Hahn schätzte sie auf etwa drei bis vier Jahre. Ihr langes Haar war wirr und strähnig, und sie roch nicht besser als die Fellstücke, mit denen sie sich zu wärmen versucht hatte. Doch die goldene Spange, die in den rotbraunen Locken des Kindes steckte, war mit winzigen Perlen besetzt und schien kostbar zu sein. Dergleichen Schmuckstücke trugen keine Bauernkinder. Und auch kein fahrendes Volk.
    «Diese Männer haben sie ausgesetzt», sagte Agatha. «Das ist ein böses Omen.»
    «Herzlose Schufte!»
    «Ich weiß nicht recht.» Agatha näherte sich dem Kind, das inzwischen ganz unter dem Deckenberg hervorgekrochen war.
    «Vielleicht hatten sie gute Gründe, das Mädchen loszuwerden. Lutz, rühr sie nicht an; bleib weg von ihr. Möglicherweise ist sie aussätzig. Es fehlte gerade noch, dass sie uns die Pest bringt.»
    Lutz hatte sich im Schneidersitz auf dem Boden niedergelassen und strahlte. Er schien erfreut darüber, ein Kind entdeckt zu haben, das kleiner war als er.
    Hahn runzelte die Stirn. Wer würde ein kleines Mädchen allein in einem Haus zurücklassen und danach das Weite suchen, als wäre der Teufel hinter ihm her? Natürlich geschah es alle Tage, dass Kinder ausgesetzt wurden, wenn ihre Eltern zu arm waren, um sie zu versorgen. Oder wenn es sich um die Frucht eines Fehltritts handelte, die man sich klammheimlich vom Halse schaffen wollte. Doch wenn tatsächlich einmal eine Dienstmagd schwanger wurde und ihr neugeborenes Kind aussetzte, geschah das in der Regel bald nach der Niederkunft und nicht erst Jahre später. Diese Kinder waren auch nicht so wohlgenährt, und gewiss trugen sie keine perlenbesetzten Silberspangen im Haar. Das Kleid des Kindes sah ebenfalls kostbar aus, wenngleich das dunkle Tuch feucht und am Saum gerissen war.
    Ein heftiges Stöhnen holte Hahn aus seinen Gedanken. Es kam nicht aus dem Mund des Mädchens, aber unüberhörbar aus dem dunklen Winkel, in dem es gesteckt hatte. Der Hutmacher erstarrte. Agatha schrie entsetzt auf.
    «Barmherziger, steh uns bei», rief sie. «Da liegt noch jemand unter den Decken. Ich habe es gewusst, das ist Teufelswerk. Du weißt doch, was man sich über diese Gegend erzählt. Lass uns verschwinden, bevor dieser Wechselbalg uns verhext.»
    Das kleine Mädchen kniete sich vorsichtig neben den Decken nieder.
    Unschlüssig wanderten Hahns Blicke von seiner Frau zu dem kleinen Mädchen hinüber. Er hatte nie eine Tochter gehabt, glaubte aber nicht, dass von einem derart engelsgleichen Geschöpf etwas
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