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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin
Autoren: Roy Baumeister
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wenn sie die klassische philosophische Frage der Willensfreiheit erörtern, bevorzugen sie den Begriff »Handlungsmöglichkeiten« und sprechen verächtlich vom »sogenannten Willen«. Neuerdings fordern Wissenschaftler sogar, man müsse den Rechtsstaat reformieren, um altmodische Vorstellungen wie den freien Willen und die Verantwortung abzuschaffen.
    Als Roy Baumeister in den siebziger Jahren an der Princeton University seine Laufbahn als Sozialwissenschaftler begann, teilte er diese verbreitete Skepsis gegenüber der Willenskraft. Seine Kollegen beschäftigtensich nicht mit der Selbstdisziplin, sondern mit dem Selbstwertgefühl. In seinen Experimenten konnte Baumeister zeigen, dass Menschen mit mehr Selbstvertrauen und einem größeren Selbstwertgefühl glücklicher und erfolgreicher waren als andere. Viele gelangten damals zu dem Schluss, man könne Menschen zum Erfolg verhelfen, indem man ihr Selbstwertgefühl stärke. Dieser Ansicht schienen nicht nur die Psychologen zu sein, sondern auch die gesamte Bevölkerung, wie Bestseller wie
Ich bin o.k. – du bist o.k.
von Thomas A. Harris oder
Grenzenlose Energie
von Anthony Robbins zeigen. Doch die Ergebnisse waren enttäuschend, im Labor genauso wie in der wirklichen Welt. In internationalen Vergleichstests 13 haben amerikanische Schüler zwar schier grenzenloses Vertrauen in ihre mathematischen Fähigkeiten, aber in den Prüfungen selbst schneiden sie regelmäßig deutlich schlechter ab als Schüler aus Korea, Japan und anderen Nationen, die weit weniger Selbstvertrauen mitbringen.
    In den achtziger Jahren begannen jedoch einige Wissenschaftler, sich für das Thema der Selbstregulation zu interessieren. An der Spitze dieser Wiederentdeckung der Disziplin standen keine Theoretiker, denn diese hielten den Willen noch immer für ein Märchen aus dem 19. Jahrhundert. Es waren vielmehr Psychologen, die im Labor oder in der wirklichen Welt Experimente durchführten und immer wieder auf etwas stießen, das man nicht anders nennen konnte als »Willenskraft«.
    Das Comeback des Willens
    In der Psychologie sind geniale Theorien billig zu haben. Viele Menschen meinen, die Wissenschaft mache Fortschritte, wenn jemand ein brillantes neues Gedankengebäude errichtet, aber so funktioniert sie leider nicht. Eine Theorie aufzustellen ist nicht weiter schwer. Jeder hat seine Lieblingstheorie, um zu erklären, warum wir was wie tun, und viele Psychologen müssen sich bei der Präsentation einerneuen Theorie Sätze anhören wie: »Das hat doch schon meine Oma gewusst.« Aber wirkliche Fortschritte werden nur dann erzielt, wenn jemand eine Möglichkeit findet, eine Theorie in der Praxis zu überprüfen. Das tat zum Beispiel Walter Mischel. Er und seine Kollegen beschäftigten sich gar nicht mit Fragen der Selbstregulation, und es sollte Jahre dauern, ehe sie die Ergebnisse ihrer Untersuchungen überhaupt in einen Zusammenhang mit der Selbstdisziplin und der Willenskraft brachten.
    Mischel ging der Frage nach, wie Kinder lernen, die Befriedigung eines Bedürfnisses aufzuschieben, und entwickelte kreative Experimente, um den Prozess bei vierjährigen Kindern zu beobachten. Er brachte sie einzeln in einen Raum, zeigte ihnen ein Marshmallow und bot ihnen einen Handel an: Er werde den Raum verlassen, und die Kinder konnten das Marshmallow jederzeit essen. Aber wenn sie warteten, bis er zurückkam, versprach er ihnen zur Belohnung ein zweites Marshmallow. Einige Kinder steckten das Marshmallow in den Mund, kaum dass er den Raum verlassen hatte, andere widerstanden der Versuchung eine kurze Zeit, wieder andere warteten eine geschlagene Viertelstunde auf ihre Belohnung. Die Kinder, denen dies gelang, lenkten sich meist durch etwas anderes ab. Die Experimente wurden in den sechziger Jahren durchgeführt und erregten damals ein gewisses Interesse in der Fachwelt. 14
    Durch Zufall machte Mischel viele Jahre später jedoch eine faszinierende Entdeckung. Seine Töchter besuchten dieselbe Schule, an der er die Marshmallow-Experimente durchgeführte hatte. Mischel hatte die Versuche längst abgeschlossen und sich anderen Themen zugewandt, doch über seine Töchter hörte er immer wieder von ihren Mitschülern. Dabei stellte er fest, dass die Kinder, die nicht auf das zweite Marshmallow hatten warten können, sowohl in der Schule als auch außerhalb mehr Probleme zu haben schienen. Um zu überprüfen, ob sich dahinter ein Muster verbarg, spürte Mischel rund hundert der ursprünglichen Testteilnehmer
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