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Die Macht der Disziplin

Die Macht der Disziplin

Titel: Die Macht der Disziplin
Autoren: Roy Baumeister
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Heuchelei und Prüderie des 19. Jahrhunderts - so wird oft behauptet, im viktorianischen England habe man Tischbeine mit kleinen Röckchen versehen, damit der Tisch keine Knöchel zeige. Wenn man heute die steifen Predigten über Gott und die menschlichen Pflichten aus der Zeit liest, dann kann man ohne Weiteres verstehen, warum die respektlosen Bemerkungen Oscar Wildes so erfrischend wirkten: »Ich kann allem widerstehen, außer der Versuchung«, erklärte er etwa. Aber angesichts der zahlreichen neuen Versuchungen stellte es kein Zeichen einer Neurose dar, wenn viele Menschen nach neuen Quellen zu ihrer Stärkung suchten. Viele beklagten den Sittenverfall und die gesellschaftlichen Krankheiten der Städte und suchten nach einem Halt, der greifbarer war als die göttliche Gnade – eine innere Stärke, die sie auch als Atheisten beschützte.
    Damals entdeckte man den Begriff des Willens oder der Willenskraft. Man meinte, dass eine Art Kraft im Spiel sein müsse, die gewisse Ähnlichkeit mit dem Dampf habe, der die Industrielle Revolution antrieb. Viele Menschen versuchten, ihre Willenskraft mittels Selbsthilfebüchern zu trainieren. Einer der ersten Bestseller war
Hilf
dir selbst!
5 des britischen Autors Samuel Smiles, der seine Leser unter dem Motto »Genie ist Geduld« daran erinnerte, dass Erfolg mit »Selbstzucht« und »unermüdlicher Beharrlichkeit« zu tun habe. Sein amerikanischer Zeitgenosse Frank Channing Haddock schrieb ein Buch mit dem schlichten Titel
Die Macht des Willens
6 ; er gab dem ganzen einen wissenschaftlichen Anstrich und beschrieb den Willen als »Energie, die sich qualitativ mehren und qualitativ stärken« lasse. Allerdings hatte er keine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte, und wissenschaftliche Beweise für seine These konnte er schon gar nicht vorlegen. Derselbe Gedanke kam jedoch auch einem Menschen mit größerer wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit: Sigmund Freud meinte, das Ego basiere auf geistiger Aktivität, die wiederum mit einem Energieaustausch zusammenhänge.
    Doch Freuds Nachfolger vergaßen sein Energiemodell. Erst vor kurzem begannen Wissenschaftler, allen voran Roy Baumeister, systematisch nach dieser Energiequelle zu fahnden. Fast das ganze 20. Jahrhundert hindurch suchten Psychologen und Lehrende lieber nach Gründen, warum der Wille nicht existierte.
    Die willenlose Gesellschaft
    Wenn Sie durch wissenschaftliche Fachzeitschriften oder die aktuelle Selbsthilfeliteratur blättern, stellen Sie schnell fest, dass die Vorstellung der »Charakterbildung«, wie sie im 19. Jahrhundert gepflegt wurde, seit geraumer Zeit außer Mode ist. Wenn die Begeisterung für den Willen zu Beginn des 20. Jahrhunderts abflaute, dann hatte das natürlich mit den moralischen Exzessen des 19. Jahrhunderts zu tun, aber auch mit wirtschaftlichen Umwälzungen und den beiden Weltkriegen. Das Blutvergießen des Ersten Weltkrieges schien nur möglich gewesen zu sein, weil zu viele Moralisten pflichtschuldig in den Tod gegangen waren. In den Vereinigten Staaten und Westeuropa predigten Intellektuelle daher eine entspanntere Sicht des Lebens. Andersin Deutschland, wo die Nationalsozialisten eine »Psychologie des Willens« vertraten; bildgewordener Ausdruck dieser Philosophie war Leni Riefenstahls Film
Triumph des Willens
über den Reichsparteitag der NSDAP in Nürnberg im Jahr 1934. Die nationalsozialistische Vorstellung des Gehorsams der Massen gegenüber einem Soziopathen hatte zwar nichts mit dem Gedanken des Willens aus dem 19. Jahrhundert zu tun, aber dieser Unterschied wurde verwischt. Wenn die Nationalsozialisten den Triumph des Willens verkörperten, dann wollte man besser nichts mit dem Willen zu tun haben.
    Niemand weinte dem Willen eine Träne nach, und in den Jahrzehnten nach dem Krieg wurde er durch immer neue Kräfte weiter geschwächt. Der technologische Fortschritt verbilligte die Güter und trug zum neuen Wohlstand der Arbeitnehmer bei, der private Konsum wurde zum Motor der Wirtschaft, und die neue Werbebranche drängte die Menschen zum Kauf. Soziologen sprachen von einer neuen Generation fremdbestimmter Menschen, die sich eher von den Ansichten ihrer Nachbarn lenken ließen als von eigenen moralischen Überzeugungen. Die Selbsthilfebücher des 19. Jahrhunderts galten als verstaubt und egozentrisch. Die neuen Bestseller 7 waren fröhliche Bücher wie Dale Carnegies
Wie man Freunde gewinnt
8 oder Norman Vincent Peales
Die Kraft positiven Denkens
9 . Carnegie verwendet ganze acht
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