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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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durch meine gestauchten Eingeweide.
      Solch ein kleines Geräusch durfte mich nicht nervös machen. Dass sich Metallteile immer wieder lösten und nach unten fielen, war logisch in diesem Wust aus Schrott. Da brauchte ich nicht zusammenzucken.  
      War es ein Anschlag gewesen? Ein Anschlag auf einen Intercity, von Terroristen, ein Bombenattentat? Aber die suchten sich doch eigentlich Busse und Nahverkehrszüge aus.
      Der Zug hatte gestanden, ein Defekt an unserem Zug kam daher als alleinige Ursache nicht in Frage. Wahrscheinlich war uns wirklich ein anderer Zug aufgefahren.
      Alles war möglich.
     
     
    War die Feuerwehr eigentlich schon da? Der Krankenwagen? Rettungsmannschaften? Suchhunde? Suchte überhaupt schon jemand hier am Unfallort?
       Wäre ich nicht ohnmächtig gewesen, ich hätte die Zeitspanne ziemlich genau schätzen können. Ein Talent, das zu meiner Arbeit passte. Time is Cash, Time is Money. Mein Blackberry!
      Hektisch tastete ich mit der freien Hand die Innentasche meines Sakkos ab. Immer wieder griff ich in die Tasche und spreizte meine Finger in alle Ecken. Aber außer einer Rechnung der Trockenreinigung fand ich nichts.
      Ich suchte zwischen der Jacke und mir, denn es war gut möglich, dass es rausgeflogen war und nicht weit weg von mir lag. Doch ich hatte kein Glück. Weder auf der einen noch auf der anderen Seite meines Körpers konnte ich das Blackberry finden. Es war verschwunden.
      Hilflos warf ich meinen Kopf hin und her. Rechts von mir drückte eine große Kiste meinen Arm in den Boden, links war der Dreck übersät mit Maschinenteilen, Scherben und Holzspänen. Erst etwa zwei Meter weiter versperrten größere Platten den Blick. Öl und Bremsflüssigkeit rannten an ihnen herunter und tropften von den zerborstenen und verbogenen Schrottteilen zu Boden.
      Mit meiner freien Hand legte ich in einem kleinen Umkreis den matschigen Boden frei, aber keine Spur von meinem Handy. Auch nicht von meinem Laptop oder meinem Samsonite-Koffer.
      Modriger Geruch mischte sich mit dem der entgleisten Maschine.
      Markus, mein Kollege, hatte bestimmt schon eine Nachrichten-SMS von einem seiner lieben Freunde bekommen, der zeitgleich mit der Feuerwehr über solche Ereignisse informiert wurde.
      Drei Worte reichten: Zugkatastrophe in Deutschland, und der DAX würde sinken. Es geht um Logistik, und die hat eine große Bedeutung für die Wirtschaft. Außerdem wurden die Antriebswagen von Siemens gebaut. Wenn man nicht sofort die Ursache für die Katastrophe fand, dann würde deren Aktie heute den größten Kursverlust einstecken. Markus wird mit seinen Fingern geschnippt haben, eine Angewohnheit vor sicheren Trades. Bevor die Nachricht in den Medien war, und bevor es der Aufsichtsrat von Siemens wusste, hatte Markus schon Put-Zertifikate auf Siemens gekauft, denn das Papier würde heute einen heftigen Dive nehmen. Bis zu 10% minus sind bei so was kurzzeitig möglich. Und bei einem Turbo-Put mit einem leicht zu riskierendem Hebel von 100 wäre das bei einem kontinuierlich sinkenden Kurs in einer Stunde 1000% Gewinn.
      Verdammt, da passierte mal was, und dann passierte es mir. Würde ich heute wenigstens noch wie geplant dazu kommen, meine Weizen-Anteile zu verkaufen? Falls nicht, konnte ich sie abschreiben.
      Wieder war das Lied zu Ende, wieder wartete ich auf das nächste. Vielleicht würde es eine Ballade sein, etwas anderes. Aber diesmal blieb die Stille.
      Ich drehte meinen Kopf, meine Halswirbel knackten laut. Ich schluckte, selbst dieses Geräusch wurde bei geschlossenem Mund zu einem Ereignis.
      Stille legte sich über mich und die Trümmer, als sollte ich mich frühzeitig an das Gefühl der ewigen Ruhe gewöhnen.
      „Hallo!“, rief ich, „Hörst du mich, Mädchen! Ich ... ich bin der Mann, der dir schräg gegenübergesessen hat, der im Anzug.“
      Ich hörte meinen Atem und die leisen Aufschläge von Tropfen auf Metall und andere Materialien. Ihr schüchterner Klang verstärkte nur die Stille. Selten das einsame Ächzen sich verbiegenden Stahls.
      Mein Hals zog sich zu, mit dem Hip-Hop-Lied war mir ein Stück Hoffnung genommen.
      Hoch über mir starrte die nackte Birne des Scheinwerfers bewegungslos und kalt über den runden Horizont des Puffers auf mich herab. Schatten und Licht zeichneten meine schwarzweiße Umwelt.
      Ich rief um Hilfe, bis meine Stimmbänder kratzten. Gnadenlos wurden die Rufe von dem Berg aus Schrott geschluckt. Meine Stimme hörte sich an
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