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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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uns ein weiterer Wagen erwischen würde, wäre es aus.
      Das Taxi kam in einem rechten Winkel zur Straße zum Stehen. Und auch damals diese Stille. Bis sich die Fahrerin zu mir herumdrehte und aufschrie, als sie mich sah. Ich senkte den Kopf und blickte meinen Bluttropfen nach, wie sie aus meinem Gesicht in Zeitlupe auf die Glassplitter zwischen meine Füße fielen und dort auf den Scherben zerplatzten.
      Ich verfolgte ihren Weg wie den jener Wassertropfen, die beim Duschen vom Gesicht meines gesenkten Kopfes zum Beckenboden fallen.
      Dabei hatte mein Hirn so klar weitergearbeitet, wie beim Verkauf eines Turbo-Call-Zertifikates, dessen Kurs mit Gewalt ins Bodenlose stürzt. Als Nächstes hatte ich meine Zähne mit der Zunge abgetastet. Sie waren alle in Ordnung.
      Seit ich von jemandem gehört hatte, der zwar einen Helikopterabsturz überlebt hatte, aber drei Tage mit gebrochenen Kiefern und zwanzig herausgeschlagenen Zähnen auf Rettung warten musste, machte ich mir darüber Gedanken.
      Nachdem klar war, dass zahlreiche winzige Glassplitter in meinem Gesicht steckten, hoffte ich, keine Narben davontragen zu müssen. Ich atmete durch und blinzelte, sofort flammte ein stechender Schmerz im Auge auf. Steckte auch dort ein Glassplitter? Es fühlte sich so an. Ich riss die Augen weit auf.
      Dann half man mir aus dem Wagen, und ich legte mich auf den nackten Asphalt, auf die Seite, winkelte meinen Arm an und ruhte meinen Kopf darauf aus, die Augen die ganze Zeit weit aufgerissen. Passanten und Unfallzeugen sammelten sich um mich herum, ihre Beine alle im ungewohnten 90 Grad Winkel.
     
     
    Ein metallenes Quietschen ließ mich meinen Kopf einziehen, so weit es ging, als könnte ich ihn so irgendwie schützen, sollte sich die Lokomotive mit dem Puffer voran meinem Gesicht entgegensenken. Krampfartig biss ich auf meine Zähne, sie knirschten, und die Kiefermuskeln bebten vor Anspannung.
      Schlagartig war es wieder still, bis auf die Musik, die nun seltsam deplatziert klang.
      Ein Geräusch bedeutete, dass sich die Trümmerteile verschoben. Dabei gab es nur eine Richtung: nach unten. Und ich lag zu unterst.
      Die Trümmer rutschten nach. Was hatte ich erwartet? Wie stabil war dieser gigantische Haufen aus ineinandergeschobenen Wagons über mir? Es war nur natürlich, dass der Schrott unter seinem eigenen Gewicht nachgab.
      Der Puffer der Lokomotive konnte mir jederzeit unweigerlich den Kopf zerquetschen. Die Frage war, ob es rasch geschehen würde oder quälend langsam.
      Der Gedanke daran, Stück für Stück zermalmt zu werden, schnürte mir wieder den Hals zu. Es könnte auch ohne Weiteres sein, dass ich bald anstatt unverletzt mit gebrochenen Knochen auf Hilfe warten musste. Sollte mein Gesicht in Mitleidenschaft gezogen werden, könnte ich vielleicht nicht einmal mehr um Hilfe rufen. Der Puffer könnte mein Gesicht seitlich treffen. Dann käme es darauf an, wie weit er meinen Kopf in den Boden drücken würde. So tief, dass ich auf der Stelle tot wäre, oder nur schwerverletzt, und von da an mit zerschmetterten Gesichtsknochen elendig verblutend, blind und stumm den eigenen Tod erwartend.
      Ich kämpfte gegen den Drang an, mich meinen Gefühlen hinzugeben.
      Das war der Stress, der Schock. Sicherlich hatte ich einen Schock, ich musste einen Schock haben. Wer hätte keinen in meiner Situation, bei dem, was mir passiert war? Was immer auch genau passiert war.
      Ich schluckte. Ansonsten war ich nicht so nah am Wasser gebaut, wie meine Mutter immer gesagt hatte. Ihr Gesicht tauchte vor mir auf. Sie saß dann immer am Küchentisch beim Mittagessen und lächelte, gerade so, als hätte es die Bilder während ihrer Krankheit nicht gegeben, das Missverstehen vor der Diagnose, die Gereiztheit, das Streiten.
      Zwischen ihren Jobs war es ihr in meiner Kindheit wichtig, zu Hause zu sein, wenn ich von der Schule kam. Sie aß meistens sehr schnell, weil sie schon bald wieder putzen musste. Aber das Essen war fertig. Das ging so bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr, da meinte sie, ich könnte mir von nun an selber etwas kochen. Im Spaß sagte sie, sie müsse mehr arbeiten, weil ich mehr essen würde.
      Ich erstickte meine Trauer mit einem Hilfeschrei, und weil der alleine nicht reichte, rief ich ein zweites Mal. Aber meine Rufe blieben ohne Echo, meine Worte vom Schutt verstümmelt, bevor ich sie ganz ausgesprochen hatte. 
     Ein Stück Metall fiel auf Metall, und der helle Klang fuhr wie ein Blitz
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