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Die Lokomotive (German Edition)

Die Lokomotive (German Edition)

Titel: Die Lokomotive (German Edition)
Autoren: Thorsten Nesch
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Klassik, und ein Mal im Jahr, am zweiten Weihnachtstag, gönnte ich mir die Muße, Lieder von meiner Playlist zu schmeißen und neue hinzuzufügen.
      Francesca hatte das am Anfang gestört, aber sie hatte sich schnell damit abgefunden. Mit ihren maßangefertigten Ohrenstöpseln schlief sie so tief, dass sie nicht mal aufwachte, als mir damals neben dem Bett mein Macbook aus der Hand glitt und auf den gemaserten Kacheln zerschellte.
      Sogar die beiden Kaktuswelse zuckten in ihrem zwei Meter hohen und vier Meter langen Aquarium. Ursprünglich hatte ich nur den Vorschlag der Innenarchitektin abgenickt, die meinte, eine solche gläserne Trennwand würde dem Loft das gewisse Etwas verleihen, und mir waren die Fische darin völlig egal. Tatsächlich fand ich heraus, dass es genau die beiden Welse waren, die mir vor allem in meinen eigenen vier Wänden gefielen, wie sie so elegant zur Musik abends durch das grün fluoreszierende Wasser kreuzten. Eines Abends zu Mozart oder Bach, als Francesca schon schlief, gab ich ihnen sogar Namen. Das Weibchen taufte ich Candle und das Männchen Bollinger.
      Das nächste Lied begann. Meine Erleichterung kannte keine Grenzen, die Stille war bloß die Pause zwischen zwei Liedern gewesen, und sie war mir wie eine Ewigkeit vorgekommen.
      „Hört mich jemand?“
      Meine Stimme klang dumpf, trocken und viel zu leise.
      Wer sollte mich hier hören? Waren die Rettungsmannschaften bereits eingetroffen, oder noch unterwegs?
      „Mädchen, hörst du mich? Dann sag was!“
      Ich horchte angestrengt.
      Sie antwortete nicht. Vielleicht überlagerte die Musik meine Rufe, oder sie war verletzt und ihre Stimme zu schwach. Gedanken an Schlimmeres verdrängte ich.
      Die junge Frau hatte auf der anderen Seite des Ganges gesessen.
      Ich musste 2. Klasse reisen, weil die 1. bereits ausgebucht war, als ich online mein Ticket bestellte.
      Um ihre blonden Haare hatte sie ein rotes Kopftuch geschwungen, weiße Ohrenstöpsel, so wippte sie mit im Takt, und ihr Schmollmund formte lautlos die Worte eines wütenden Sängers. Ihr Kopf zeigte geradeaus, während ihre Augen aus dem Fenster schauten. Sie trug ein weißes T-Shirt mit verschnörkelter schwarzer Schrift, rote Jeans, weiß-roten Sneaker, die Füße übereinandergeschlagen auf dem Sitz gegenüber, und neben sich den Rucksack, bekritzelt mit Bandnamen. Die Isomatte und den Schlafsack hatte sie außen mit Riemen festgezurrt.
      Selbst als der Zug hielt, starrte sie angestrengt aus dem Fenster, als suchte sie dort etwas. Das hatte ich gesehen, als ich mir mein Sakko anzog, weil wir bald aussteigen würden. Und dann jener Moment, in dem sich unsere Blicke trafen, ihre großen dunklen Augen, und der nicht zu Ende gedachte Gedanke, es ginge endlich weiter. Aber ich erwachte in der Dunkelheit, als hätten mich ihre Augen verschluckt. Dazwischen fehlte die Erinnerung.
      War ein Zug auf unseren stehenden aufgefahren? War das überhaupt möglich in der heutigen Zeit? War nicht alles doppelt abgesichert, Mensch und Maschine? Vielleicht hatte der Lokführer geträumt, oder geschlafen, wegen Medikamenten, oder er hatte eine Herzattacke. Aber für solche Fälle gab es doch sicherlich automatische Bremsen. Es könnte natürlich auch eine Verkettung unglücklicher Umstände sein, wie meistens bei derartigen Katastrophen. Ein technischer Defekt, eine Computerpanne gepaart mit menschlichem Versagen.
      Ein Unfall, in den zwei Züge verwickelt waren, würde erklären, warum nichts von den Rettungsmannschaften zu hören war. Wenn ich Pech hatte, lag ich an einem Ende der verkeilten Züge, und die Helfer suchten systematisch von der anderen Seite.
      Ich war überrascht, wie klar und analytisch mein Kopf selbst in Extremsituationen arbeitete. Wie damals bei dem Unfall.
      Meine Bank stellte mir zu der Zeit noch keinen Fahrer zur Verfügung. Das war eine Annehmlichkeit, in deren Genuss ich erst später kommen sollte, als ich mehrfach meinen Wert für unser Institut unter Beweis gestellt hatte. Und so saß ich in einem gewöhnlichen Taxi auf dem Weg vom Flughafen zur Zentrale. Vorne übergebeugt, damit die Sonne sich nicht in dem Display spiegelte, kontrollierte ich meine SMS, als plötzlich die Fahrerin auf die Bremse stieg.
      Ein Kleinbus zog vor uns aus einer Einfahrt auf die Straße. An Ausweichen war nicht zu denken.
      Nach dem Aufprall schleuderte unser Wagen zweimal um seine eigene Achse auf die Gegenfahrbahn, und ich dachte damals, wenn
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