Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die linke Hand Gottes

Die linke Hand Gottes

Titel: Die linke Hand Gottes
Autoren: Paul Hoffman
Vom Netzwerk:
Schau.
    »Isst du das nicht mehr?«, fragte ihn ein Junge mit hoffnungsvoll leuchtenden Augen, als ob die fade Wurst und der wachsgraue Haferbrei ihm Glückseligkeit versprächen.
    Cale gab keine Antwort, sondern zwang sich weiterzuessen, ohne dass es ihm übel wurde.
    Nach dem Essen trug Cale das hölzerne Tablett zum Waschtrog, scheuerte es mit Sand aus und stellte es zurück an seinen Platz. Dann ging er, unter dem Blick eines Mönches, der von seinem hohen Sitz aus das ganze Refektorium übersah, bis zur Statue des Gehenkten Erlösers, kniete sich hin und wiederholte dreimal »Ich bin sündig, ich bin sündig, ich bin sündig«, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was die Worte eigentlich bedeuteten.
    Draußen war es schon dunkel und der Abendnebel senkte sich. Das war gut, denn so konnte Cale leichter ungesehen vom Wandelgang in das Gebüsch hinter der großen Statue schleichen.
    Als Cale dort ankam, konnte er schon keine fünf Schritte weit mehr sehen. Er trat auf den Kiesweg vor der Statue. Es war die größte Darstellung eines heiligen Galgens in der ganzen Ordensburg. Sicherlich gab es Hunderte, manche nur ein paar Zoll groß, an Wände genagelt, in Nischen aufgestellt, als Beigabe zu den Gefäßen mit heiliger Asche am Ende jedes Ganges und als Schmuck über jedem Türsturz. Ihr Anblick war so alltäglich, das Wort wurde so oft benutzt, dass das Bild selbst schon lange jede Bedeutung verloren hatte. Keiner, abgesehen von den Novizen, nahm überhaupt noch wahr, was sie darstellten, nämlich einen gehenkten Mann, den Strick um den Hals, den Körper mit Wundmalen von der vorhergegangenen Folter übersät, und dessen gebrochene Beine seltsam verrenkt unter ihm baumelten. Galgendarstellungen des Gehenkten Erlösers aus der Zeit der Gründung der Ordensburg vor gut tausend Jahren waren primitiv und besaßen Wirklichkeitstreue. Bei mangelndem künstlerischem Geschick standen dem Gehenkten der Schrecken in Augen und im Gesicht geschrieben, der verdrehte Körper sah geschunden aus, die Zunge ragte aus dem Mund hervor. Die Bildhauer hatten deutlich machen wollen, dass es sich um eine grausame Todesart handelte. Im Lauf der Jahrhunderte gewannen die Darstellungen an künstlerischer Raffinesse, verloren jedoch an Ausdruck. Die große Statue mit dem mächtigen Galgen, an dem ein über sechs Meter großer Erlöser an einem dicken Strick baumelte, war nur dreißig Jahre alt. Die Striemen auf dem Rücken waren zwar deutlich erkennbar, aber blutlos. Die Beine sahen überhaupt nicht zerschunden aus, sondern waren in eine Positur gebracht, als litte er lediglich an Wadenkrämpfen. Doch vor allem sein Gesicht verwunderte, denn statt von Schmerz verzerrt zu sein, drückte es eine nur leicht getrübte heiligenmäßige Ruhe aus, so als habe der Mann ein Knöchelchen verschluckt, von dem er sich mit einem dezenten Hüsteln befreien wollte.
    Jetzt in der Abenddämmerung erkannte Cale lediglich die großen Füße des Erlösers, die geisterhaft aus dem weißen Nebel ragten. Der Anblick war ihm unheimlich. Ohne ein Geräusch glitt er in die Büsche zurück, die ihn vor möglichen Passanten verbargen.
    »Cale?«
    »Ja.«
    Der Junge aus dem Refektorium, Kleist mit Namen, und Vague Henri tauchten auf.
    »Hoffentlich ist es die Sache wert, Henri«, flüsterte Cale.
    »Ganz bestimmt, Cale.«
    Kleist bedeutete Cale, ihm in das Gebüsch vor der Mauer zu folgen. Dort war es noch dunkler, und Cales Augen hatten sich noch nicht an die Dunkelheit gewöhnt. Die anderen beiden warteten auf ihn vor einer Tür.
    Und das war ungewöhnlich, denn obwohl es in der Burg viele Türöffnungen gab, hatten die allermeisten keine Türen. Während der Großen Reformation vor zweihundert Jahren war mehr als die Hälfte der Erlösermönche wegen Ketzerei auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Der siegreiche Flügel hatte aus Furcht, der Irrglaube könnte auf die Zöglinge überspringen, diese sicherheitshalber auch gleich umgebracht. Die Ränge wurden mit Novizen gefüllt, für die man viele Änderungen einführte, darunter auch die Maßnahme, in allen Räumen der Jungen die Türen zu entfernen.
    Denn welchen Zweck erfüllten Türen, wenn es um Sünder ging? Türen verbargen Dinge. Türen waren Teufelszeug, da sie das Geheimnis, das Alleinsein und die Verschwörung förderten. Schon der bloße Begriff der Tür erfüllte die Mönche mit Furcht und Empörung. Der Teufel selbst wurde fortan nicht mehr als Scheusal mit Hörnern, sondern als ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher