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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Träumerei.
    «Maddy?», sagte sie. «Ist das nicht dein Freund Mitchell?»
    Madeleine wirbelte auf ihrem Stuhl herum. «Wo?»
    «Ich glaube, das ist er. Gegenüber, auf der anderen Straßenseite.»
    Tatsächlich, vor der Kirche, kerzengerade im Schneidersitz auf dem frisch gemähten Rasen, saß Madeleines «Freund» Mitchell Grammaticus. Seine Lippen bewegten sich, als führte er Selbstgespräche.
    «Willst du ihn nicht fragen, ob er uns Gesellschaft leistet?», sagte Phyllida.
    «Jetzt?»
    «Warum nicht? Ich würde mich freuen, Mitchell wiederzusehen.»
    «Wahrscheinlich wartet er auf seine Eltern», sagte Madeleine.
    Phyllida winkte, obwohl Mitchell bei der Entfernung nichts davon mitbekommen konnte.
    «Was macht er da, am Boden?», fragte Alton.
    Die drei Hannas starrten über die Straße auf Mitchell in seinem halben Lotussitz.
    «Also, wenn du nicht hingehst, tue ich es», sagte Phyllida.
    «Okay», sagte Madeleine. «Von mir aus. Ich geh ihn fragen.»
    Es wurde allmählich wärmer, aber nicht viel. Schwarze Wolken türmten sich in der Ferne, als Madeleine die Treppe des Carr House hinunter und über die Straße zum Kirchhof ging. Im Inneren der Kirche probierte jemand die Lautsprecher aus, wiederholte übereifrig: «Sussex, Essex und Kent. Sussex, Essex und Kent.» Auf einem Transparent über dem Eingangsportal stand «Abschlussjahrgang 1982». Darunter, im Gras, saß Mitchell. Seine Lippen bewegten sich immer noch lautlos, aber als er Madeleine kommen sah, hörten sie unversehens damit auf.
    Madeleine hielt ein paar Schritte Abstand.
    «Meine Eltern sind da», erklärte sie.
    «Heute ist Abschlussfeier», erwiderte Mitchell gleichmütig. «Da sind alle Eltern da.»
    «Sie möchten dir guten Tag sagen.»
    Mitchell lächelte schwach. «Sie haben sicher keine Ahnung, dass du nicht mehr mit mir sprichst.»
    «Nein», sagte Madeleine. «Aber egal, ich tue es ja. Jetzt. Ich spreche mit dir.»
    «Weil du musst oder als neue Strategie?»
    Madeleine wechselte das Standbein, verzog leidend das Gesicht. «Weißt du. Ich bin fürchterlich verkatert. Ich habe kaum geschlafen. Jetzt sind meine Eltern ungefähr zehn Minuten da, und schon machen sie mich wahnsinnig. Also, wenn du so nett sein würdest, auf einen Sprung rüberzukommen – das wäre toll.»
    Mitchell, mit seinen großen, gefühlvollen Augen, blinzelte zweimal. Er trug ein altmodisches Gabardinehemd, eine dunkle Wollhose und ausgebeulte Budapester. Madeleine hatte ihn noch nie in Shorts oder Tennisschuhen gesehen.
    «Tut mir leid», sagte er. «Wegen neulich.»
    «Schon gut», sagte Madeleine mit abgewandtem Blick. «Macht nichts.»
    «Es war einfach mein innerer Schweinehund.»
    «Meiner auch.»
    Sie schwiegen eine Weile. Madeleine spürte Mitchells Blick und verschränkte die Arme vor der Brust.
    Folgendes war passiert: Eines Abends im letzten Dezember war Madeleine, in einer Art Torschlusspanik um ihr Liebesleben, Mitchell auf dem Campus in die Arme gelaufen und hatte ihn mit nach Hause genommen. Aus einem Bedürfnis nach männlicher Aufmerksamkeit hatte sie, ohne es sich richtig einzugestehen, mit ihm geflirtet. Später, in ihrem Zimmer, hatte Mitchell eine Dose tiefenwirksames Wärmegelauf dem Tisch entdeckt und gefragt, wofür das gut sei. Madeleine hatte erklärt,
sportliche
Menschen bekämen manchmal Muskelschmerzen. Ihr sei klar, dass ihm dieses Phänomen wohl kaum bekannt sein dürfte, da er ja nichts anderes tue, als in der Bibliothek zu hocken, aber er könne es ihr glauben. Daraufhin hatte er sich von hinten an sie herangemacht und ihr einen Klumpen Wärmegel hinters Ohr geschmiert. Madeleine sprang auf, beschimpfte ihn und rieb das klebrige Zeug mit einem T-Shirt ab. Obwohl sie guten Grund hatte, wütend zu sein, war ihr (schon damals) bewusst, dass sie den Zwischenfall nur als Vorwand benutzte, um Mitchell wieder aus dem Zimmer zu bekommen und zu vertuschen, dass sie vorher mit ihm geflirtet hatte. Das Schlimmste an der ganzen Sache war Mitchells betroffenes Gesicht, als würde er jeden Augenblick anfangen zu weinen. Endlos beteuerte er, wie leid es ihm tue, er habe doch nur Spaß gemacht, aber sie forderte ihn auf zu gehen. In den folgenden Tagen hatte sie die Szene immer wieder vor ihrem inneren Auge abrollen lassen und sich zunehmend schlecht dabei gefühlt. Sie war kurz davor, Mitchell anzurufen, um sich zu entschuldigen, als sie einen Brief von ihm erhielt, einen höchst detaillierten, stichhaltig begründeten, psychologisch scharfsinnigen,
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