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Die Liebeshandlung

Die Liebeshandlung

Titel: Die Liebeshandlung
Autoren: Jeffrey Eugenides
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Tür. «Da ist sie ja!», sagte er begeistert. «Unsere Collegeabsolventin!» In seiner zupackenden Art strömte er ihr entgegen, um sie in die Armezu nehmen. Madeleine machte sich steif vor lauter Angst, nach Alkohol zu riechen oder, schlimmer noch, nach Sex.
    «Ich weiß nicht, weshalb du uns deine Wohnung nicht zeigen wolltest», sagte Phyllida, die als Nächste kam. «Ich hatte mich schon gefreut, Abby und Olivia kennenzulernen. Wir würden sie später auch gern zum Essen einladen.»
    «Wir bleiben nicht zum Essen», rief Alton ihr in Erinnerung.
    «Vielleicht ja doch. Es hängt ganz davon ab, was Maddy vorhat.»
    «Nein, das ist nicht geplant. Der Plan ist, dass wir mit Maddy frühstücken und nach dem Festakt wieder abfahren.»
    «Dein Vater und seine Pläne», sagte Phyllida zu Madeleine. «Trägst du das Kleid bei der Zeremonie?»
    «Ich weiß nicht», sagte Madeleine.
    «Also diese Schulterpolster, mit denen die jungen Frauen alle herumlaufen – ich kann mich nicht daran gewöhnen. Die sehen so
männlich
aus.»
    «Es gehört Olivia.»
    «Du wirkst ziemlich mitgenommen, Mad», sagte Alton. «Groß gefeiert gestern Abend?»
    «Nicht wirklich.»
    «Hast du nichts Eigenes anzuziehen?», fragte Phyllida.
    «Nachher habe ich doch meine Robe drüber, Mummy», sagte Madeleine, und um weiteren Nachforschungen vorzubeugen, ging sie an ihren Eltern vorbei durch die Halle. Draußen hatte die Sonne den Kampf gegen die Wolken verloren und war verschwunden. Das Wetter sah nicht viel besser aus als übers Wochenende. Der Campus Dance am Freitagabend war mehr oder weniger ins Wasser gefallen. Bei der zeremoniellen Bakkalaureatsfeier am Sonntag hatte esununterbrochen genieselt. Und jetzt, am Montag, regnete es zwar nicht mehr, aber die Temperatur war ungemütlich, den Eisheiligen näher als der Sommerzeit.
    Während Madeleine vor der Tür auf ihre Eltern wartete, fiel ihr wieder ein, dass sie gar keinen Sex gehabt hatte, jedenfalls nicht richtig. Das war immerhin ein Trost.
    «Deine Schwester lässt sich entschuldigen, es tut ihr furchtbar leid», sagte Phyllida, als sie herauskam. «Sie muss heute mit Richard Löwenherz zum Ultraschall.»
    Richard Löwenherz war Madeleines neun Wochen alter Neffe. Alle anderen nannten ihn Richard.
    «Was hat er denn?», fragte Madeleine.
    «Angeblich eine zu kleine Niere. Die Ärzte wollen es im Auge behalten. Wenn du mich fragst, findet man mit diesem ganzen Ultraschall immer nur neue Gründe, sich Sorgen zu machen.»
    «Apropos Ultraschall», sagte Alton, «ich brauche einen für mein Knie.»
    Phyllida schenkte ihm keine Beachtung. «Wie auch immer, Allie ist
tod
unglücklich, dass sie bei deiner Graduierung nicht dabei sein kann. Und Blake ebenfalls. Aber sie hoffen, dich und deinen neuen
beau
im Sommer zu sehen, vielleicht besucht ihr sie ja auf dem Weg zum Cape.»
    Vor Phyllida musste man sich hüten. So war sie: Erst redete sie scheinheilig über Richard Löwenherz’ zu kleine Niere, und schon fand sie den Dreh, das Gespräch auf Madeleines neuen Freund zu bringen – Leonard (den Phyllida und Alton noch nicht kannten) – und auf Cape Cod (wo Madeleine, wie sie angekündigt hatte, mit ihm zusammenleben wollte). An einem normalen Tag, mit funktionstüchtigem Gehirn, wäre Madeleine in der Lage gewesen, Phyllida einen Schritt voraus zu sein, aber an diesem Morgen brachte sie nichtsBesseres zustande, als die Worte an sich vorbeiziehen zu lassen.
    Zum Glück wechselte Alton das Thema. «Nun, Maddy, was empfiehlst du, wo sollen wir frühstücken?»
    Madeleine drehte sich um und blickte vage die Benefit Street hinunter. «In der Richtung gibt es was.»
    Sie begann, den Bürgersteig entlangzuschlurfen. Gehen – sich bewegen – schien jedenfalls eine gute Idee. Sie führte ihre Eltern an einer Reihe malerischer Häuser vorbei, hübsch instandgehaltenen Gebäuden, an denen historische Tafeln angebracht waren, und einem großen Mehrfamilienhaus mit Giebeldach. Providence war eine korrupte Stadt, von Kriminalität geplagt und von der Mafia beherrscht, aber hier, auf dem College Hill, sah man nicht viel davon. Das zweifelhafte Downtown und die sterbenden oder gestorbenen Textilfabriken lagen irgendwo da unten, in düsterer Ferne. Hier wanden sich die schmalen Straßen, oft kopfsteingepflastert, zwischen herrschaftlichen Anwesen den Berg hinauf oder schlängelten sich, eng wie das Himmelstor, um Puritanerfriedhöfe voller Grabsteine   – Straßen mit Namen wie Prospect, Benevolent, Hope oder
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