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Die Liebenden von Leningrad

Die Liebenden von Leningrad

Titel: Die Liebenden von Leningrad
Autoren: Paullina Simons
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holen.«
    Babuschka Anna sagte: »Nicht schon wieder eine Evakuierung! Noch mal überleben wir das nicht. Wir sollten besser in der Stadt bleiben.«
    Deda sagte: »Ob ich wohl noch einmal eine Stelle als Lehrer bekomme? Ich bin fast vierundsechzig. Es ist eher Zeit zu sterben, als schon wieder weiterzuziehen.« Dascha sagte: »Die Garnison in Leningrad zieht nicht in den Krieg, nicht wahr? Oder müssen sie auch in den Krieg?« Pascha sagte: »Krieg! Tania, hast du das gehört? Ich melde mich freiwillig. Ich kämpfe für Mütterchen Russland.« Bevor Tatiana antworten konnte, sprang ihr Vater auf und schrie Pascha an: »Was denkst du dir? Wer soll dich denn nehmen?«
    »Ach, komm, Papuschka«, erwiderte Pascha lächelnd. »Gute Männer werden im Krieg immer gebraucht.« »Gute Männer ja, aber keine Kinder«, fuhr Papa ihn an und kniete sich auf den Boden, um unter Daschas und Tatianas Bett zu schauen.
    »Krieg! Das ist doch nicht möglich«, sagte Tatiana langsam. »Hat Genosse Stalin nicht einen Friedensvertrag unterzeichnet?«
    Mama schenkte Tee ein und erwiderte: »Tania, es ist die Wahrheit. Es ist wirklich wahr.«
    Tatiana versuchte, die Begeisterung in ihrer Stimme zu unterdrücken, als sie fragte: »Werden wir ... evakuiert?« Papa zog einen alten, schäbigen Koffer unter dem Bett hervor. »So schnell schon?«, fragte Tatiana.
    Sie kannte die Evakuierung aus den Geschichten, die Deda und Babuschka ihr von den unruhigen Zeiten während der Revolution von 1917 erzählt hatten, als sie in den Ural in ein Dorf gezogen waren, dessen Namen sich Tatiana nie merken konnte. Wie sie mit all ihren Habseligkeiten auf den Zug gewartet, sich hineingedrängt hatten und schließlich mit einem Boot über die Wolga gefahren waren ...
    Die Aussicht auf Veränderung gefiel Tatiana. Das Unbekannte reizte sie. Sie war erst einmal in Moskau gewesen, und da auch nur kurz, mit acht Jahren - zählte das überhaupt? Moskau war nicht besonders exotisch. Es war nicht Afrika oder Amerika. Es lag ja noch nicht einmal im Ural. Es war einfach nur Moskau. Abgesehen vom Roten Platz gab es da nichts, nichts, das besonders schön war.
    Die Metanows hatten ein paar Tagesausflüge nach Zarskoje Selo und Peterhof gemacht. Die Sommerpaläste der Zaren waren von den Bolschewisten in großzügige Museen mit Parkanlagen verwandelt worden. Während Tatiana durch die Gänge in Peterhof wandelte und vorsichtig über den kalten, geäderten Marmorboden schritt, konnte sie sich kaum vorstellen, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der Menschen inmitten dieser Pracht gelebt hatten.
    Aber danach war die Familie wieder nach Leningrad in ihre zwei Zimmer zurückgekehrt, und bevor Tatiana in ihr Zimmer gelangte, musste sie an den sechs Iglenkos vorbei, deren Tür zum Flur hin offen stand.
    Als Tatiana drei war, hatte die Familie auf der Krim Urlaub gemacht, genau in dem Gebiet, das jetzt von den Deutschen angegriffen worden war. Von dieser Reise war ihr nur eins in Erinnerung geblieben: wie sie zum ersten Mal in ihrem Leben - und auch zum letzten Mal - eine rohe Kartoffel gegessen hatte. Außerdem hatte sie Kaulquappen in einem kleinen Teich beobachtet. Damals hatte sie nur mit einer dünnen Decke in einem Zelt auf dem Boden geschlafen. Vage erinnerte sie sich an den Geruch von Salzwasser. An einem kühlen Apriltag hatte Tatiana im Schwarzen Meer eine Qualle gespürt, die an ihrem kleinen, nackten Körper entlanggeglitten war und sie vor erschrecktem Entzücken hatte aufkreischen lassen.
    Der Gedanke an die Evakuierung erfüllte Tatiana mit großer Aufregung. Sie war 1924, im Jahr von Lenins Tod, zur Welt gekommen, nach der Revolution, nach dem Hunger, nach dem Bürgerkrieg. Sie hatte die schlimmen Ereignisse nicht miterlebt, aber was jetzt bevorstand, war gewiss nicht weniger schrecklich. Deda blickte sie mit seinen schwarzen Augen prüfend an und fragte: »Taneschka, was denkst du gerade?« Sie versuchte, gleichmütig zu wirken. »Nichts.«
    »Was geht in deinem Kopf vor? Es ist Krieg. Verstehst du?« »Ich verstehe.«
    »Irgendwie habe ich das Gefühl, das tust du nicht.« Deda schwieg. »Tania, das Leben, wie du es kennst, ist jetzt vorbei. Denk an meine Worte. Von diesem Tag an wird nichts mehr so sein, wie es mal war.«
    Pascha rief aus: »Ja! Wir werden die Deutschen zur Hölle jagen, wo sie hingehören!« Er lächelte Tatiana an, die sein Lächeln erwiderte. Papa und Mama sagten gar nichts. Papa fragte schließlich: »Ja. Und was dann?« Babuschka
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