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Die lieben Patienten!

Die lieben Patienten!

Titel: Die lieben Patienten!
Autoren: Robert Tibber
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einen Blick hineingeworfen hatte, war ich froh, daß ich, selbst unter dem Risiko, Sylvias Fuß zu zerquetschen, vereitelt hatte, daß jemand meinen Beruf erfuhr. Sechs Leute saßen in dem Raum, ein Mann und fünf Frauen. Nach einem schnellen Überschlag taxierte ich das gemeinsame Alter auf gut vierhundert Jahre, und es bestand kein Zweifel daran, daß sie imstande sein würden, zusammen genügend Krankheiten und Operationen aufzuweisen, um ein ruhiges Wochenende in Frage zu stellen. In solch einem Milieu war ein Arzt ein gefundenes Fressen, aber ich war nicht dazu bereit, mich verspeisen zu lassen.
    Nachdem uns die Lady in Rock und Pullover nur ungern in unserem sauberen, aber frostigen Schlafzimmer allein gelassen hatte, nicht ohne uns darauf hinzuweisen, daß das Dinner jetzt außerhalb der Saison um sechs Uhr dreißig stattfände, zog ich als erstes das Telefonkabel aus dem Stecker; als zweites steckte ich einen Schilling in die Schaltuhr und drehte den elektrischen Heizofen an, und als drittes nahm ich Sylvia, die den Mantel fröstelnd fester um sich gezogen hatte, in die Arme.
    Ich küßte sie leidenschaftlich und rief dann, als ich einen Blick über ihre Schulter warf: »Verdammt!«
    »Was ist los?«
    »Wir haben Einzelbetten.«
    »Ich weiß.«
    »Warum hast du dann nichts gesagt, solange unsere Freundin noch hier war?«
    »Ich wollte deshalb kein Theater machen. Sie ist schon so mißtrauisch genug.«
    »Vielleicht hast du recht. Wir machen besser keinen Lärm und sehen zu, wie wir zurechtkommen.«
    »Was meinst du mit >zurechtkommen    »In einem.«
    Sylvia warf mir einen Blick zu. »Mir scheint, daß zwei da sind.«
    »Wir werden frieren. Und nebenbei sind dies unsere zweiten Flitterwochen.«
    »Und was ist mit dem Wochenende in Paris, nachdem die Zwillinge geboren waren?«
    »Nun gut, die dritten.«
    »Und die Woche in Turnberry nach meiner Blinddarmoperation?«
    »Dann eben die vierten. Wer zählt das schon.«
    »Ich nicht«, sagte Sylvia und strich mir über das Haar.
    »Ich auch nicht«, stimmte ich zu und drückte sie fest an mich.
    Schlag sechs Uhr dreißig erschienen wir im Speisesaal, aber das schien schon spät zu sein, denn die Gäste saßen bereits an ihren Einzeltischen, ihre Fläschchen mit Magentropfen und Röhrchen mit Vitamintabletten vor sich.
    Als wir erschienen, um unsere Plätze einzunehmen, blieben die Löffel auf dem Weg zwischen Teller und Mund stehen, und die gichtigen Finger erstarrten mitten beim Zerbrechen der knusprigen Brötchen, die Fleischbrühe war für einen Augenblick vergessen.
    Ich erinnerte mich an einen alten Trick aus meinen Schultagen, wenn wir jemanden in Verwirrung bringen wollten. Als wir an unserem Tisch in der Mitte des Raumes saßen, im Blickfeld aller wie bei einer Kabarettvorstellung, suchte ich mir das nächste Augenpaar heraus. Es gehörte einer stattlichen Lady in einem mottenzerfressenen Pelz. Ich wartete, bis sie Sylvias Haar, Kleidung, Handtasche, Brosche und Schuhe abgeschätzt hatte, und zog ihre Aufmerksamkeit auf mich. Sie hatte gerade mit meinem Haar begonnen, als ich meine Augen auf die ihren richtete und sie dort, ohne zu zwinkern, haften ließ. Mesmer hätte es nicht besser machen können. Verwirrt, wie bei einem unanständigen Schauspiel, errötete die stattliche Person bis zu den marineblauen Wurzeln ihrer aufgefärbten Haare und wandte sich wieder ihrem Brötchen zu. Ich sah die Schlankheitstabletten auf ihrem Tisch und hätte wetten mögen, daß sie nicht nur ihren soliden Weg durch das ganze Menü hindurcharbeiten, sondern von allem nachverlangen würde. Nachdem ich diese Lady, die mir am nächsten saß, zur Strecke gebracht hatte, kämpfte ich nach der gleichen Methode wider die anderen Augenpaare, und erst als ich die ganze Armee ausgerottet hatte, wandte ich mich erneut meiner Suppe zu.
    Dies war jedoch nur die erste Runde. Nach dem Essen kehrten wir in den Aufenthaltsraum zurück, eine Zwangsmaßnahme, wenn wir Kaffee zu trinken wünschten, was wir beabsichtigten, und setzten uns so dicht wie möglich ans Feuer. Da aber die fünf Damen und der eine Herr zuerst da waren und vermutlich durch ihren längeren Aufenthalt Vorrechte hatten, befanden wir uns dichter an den Terrassentüren als am Kamin. Es machte uns nicht allzuviel aus, da wir beide erschöpft waren und nicht bleiben wollten. Außerdem mußte man zugeben, daß sich die anderen Gäste bequemten, ein wenig mit ihren Stühlen zu rutschen, als wollten sie Platz machen, als wir
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