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Die Leute mit dem Sonnenstich

Die Leute mit dem Sonnenstich

Titel: Die Leute mit dem Sonnenstich
Autoren: Horst Biernath
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Zusammenbruchs unzähligen noch älteren und noch besseren Familien erging. Die Eltern waren auf der Flucht verschollen, und mit der einzigen Schwester, die in Würzburg mit einem Oberstudienrat verheiratet war, verbanden ihn keine Beziehungen. Der Schwager war ihm zu oberstudienrätlich und gar zu sehr beflissen, ihn zu einem ordentlichen Menschen zu erziehen. Als Michael ihn in der liebenswürdigsten Weise darauf aufmerksam machte, daß sich ihm bei den eigenen Kindern ein weit lohnenderes und dankbareres Betätigungsfeld für pädagogische Maßnahmen darböte, kam es zum ersten Krach, dem weitere folgten, bis Michael es vorzog, sich selbständig zu machen.
    Das Studium der technischen Wissenschaften, das normal begabte und normal ausgestattete junge Leute nach zehn Semestern abzuschließen pflegen, zog sich bei Michael wesentlich länger hin. Es war kein Wunder, daß Michael zu jener Zeit, mit zwei Marmeladebroten als Frühstück, vier zum Mittagessen und einer Portion Bratkartoffeln zum Nachtmahl, nicht gerade in Jubel und Heiterkeit dahinlebte.
    Als Aushilfsfahrlehrer, der Beflissene beiderlei Geschlechts in die Geheimnisse der Innereien von Autos und Motorrädern an beweglichen Modellen einführte, durfte er vor vier Jahren unter anderen auch ein Fräulein Barbara Hollstein über den Unterschied von Zweitakt- und Viertaktmotoren belehren. Und dieses merkwürdige Mädchen, dessen technisches Verständnis oder vielmehr Unverständnis den geduldigsten Lehrer zum Selbstmord treiben konnte, erwarb einen Führerschein ohne die mindeste Aussicht, es je zu einem Wagen zu bringen. Einfach darum, weil es ihr Spaß machte, den Fahrlehrer zum Wahnsinn zu bringen, und weil sie doch irgendwann einmal und auf irgendeine märchenhafte Weise in den Besitz eines Autos geraten könnte. Die Tatsache, daß sie allwöchentlich zwei Felder im Lotto ankreuzte, schien ihr Grund genug zu sein, um sich auf künftigen Reichtum in jeder Weise vorzubereiten. Ihrem Personalausweis nach war sie Sekretärin in einem Immobilienbüro und schien genug zu verdienen, um ihre Selbständigkeit zu behaupten und sich die kleinen Freuden des Lebens leisten zu können: nette Kleider, hübsche Schuhe, den Friseur, ein Abonnement auf einen Bücherring und ein paar Kino- oder Theaterkarten im Monat.
    Michael Prack haßte sie anfangs. Ihr unverwüstlicher, beinahe sträflicher Optimismus machte ihn krank. Später steckte er ihn an. Und schließlich, nachdem sie ihm ein paarmal auf ihrem Zimmer Spaghetti mit Tomatensoße, eine Gemüsesuppe mit Rindfleisch oder Kartoffelpuffer vorgesetzt hatte, glaubte er, Barbara sei sein guter Engel, und es sei mit ihm aufwärts gegangen, seit er ihr begegnet war.

    Barbara trat ein. Sie brachte einen Schwall gesunder Fröhlichkeit und einen hellen Abglanz des verdämmernden Frühlingstages in das starre weiße Zimmer mit. Manchmal nannte Michael sie Sankta Barbara — und wahrhaftig, sie hatte etwas von der heiteren Frische und fraulichen Üppigkeit ihrer Namenspatronin, der Schutzheiligen aller frommen Artilleristen, an sich.
    »Laß dich anschauen, Michael!« sagte sie und legte ihm einen leuchtenden Busch frisch geschnittenen Goldregens aufs Bett. Er hätte schwören mögen, daß sie ihn erst vor wenigen Minuten aus einem Garten in der Nähe des Krankenhauses gestohlen habe. »Ah, wahrhaftig, du siehst glänzend aus!« Ihre Behauptung war kühn, denn aus dem Mullverband, der die zahllosen Schrammen und Schrunden seines Gesichts bedeckte — wie ein Gesicht eben aussieht, wenn man einen Sturz mit der Nase abbremst —, lugten nur seine Augen in die sonnige Welt.
    »Jedenfalls hast du ein unverschämtes Glück gehabt, Michael! Toi, toi, toi!« Sie spitzte die Lippen und tat, als spucke sie dreimal über die linke Schulter.
    »Weißt du denn schon...?« fragte er.
    »Na hör einmal!« sagte sie ein wenig gekränkt. »Du rufst mich aus dem Krankenhaus an und erzählst mir, daß dir nichts fehle! Zum Vergnügen gehst du doch nicht ins Krankenhaus, nicht wahr? Selbstverständlich habe ich mich nach deinem Anruf sofort mit Dr. Schwenninger in Verbindung gesetzt und mich von ihm darüber beruhigen lassen, daß ich dieses Mal noch nicht als trauernde Witwe zurückbleibe.«
    »Als untröstliche Braut«, verbesserte er.
    »Das klingt noch schlimmer.« Sie schüttelte die verdrückten Blüten leicht auf, so daß die goldenen Rispen in natürlicher Anmut an den Zweigen baumelten, nahm eine leere Vase, füllte sie am Waschbecken und
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