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Die Leute mit dem Sonnenstich

Die Leute mit dem Sonnenstich

Titel: Die Leute mit dem Sonnenstich
Autoren: Horst Biernath
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lyrischer Bariton hätte zu schämen brauchen. Da aber Krankenhäuser im allgemeinen kein Ort für unpassende Scherze sind, entschied Michael sich dahin, das Wesen als Barmherzige Schwester anzusehen, und mit dieser Maßnahme erwachte auch sofort sein Wissensdurst.
    »Wirbelsäule?« fragte er lakonisch.
    Das Wort dröhnte in seinem Schädel wie ein kräftiger Paukenschlag auf. Als altem Motorradfahrer, der sogar an Rennen teilgenommen hatte, war es ihm in seinem Leben schon zweimal passiert, in karbolgetränkter Krankenhausluft zu erwachen, und stets war es dieses Wort, das er als erstes über die Lippen brachte. Er fühlte sich für den Rollstuhl zu jung, war aber, wenn auf seine Frage ein klares und unzweideutiges Nein erfolgte, beruhigt und bereit, alle übrigen Konsequenzen seiner Lieblingssportart neben der Fliegerei auf sich zu nehmen: Armbrüche, Beinbrüche, ausgerenkte Kiefer und durcheinandergeschüttelte Hirnmasse.
    Schwester Kordula — ein Name, der in ihrem Mund wie eine ferne Brandung rauschte — drückte während ihrer Antwort auf einen Klingelknopf neben seinem Bett.
    »Nein«, sagte sie kopfschüttelnd, als könne sie es selber nur schwer glauben, »Sie haben nichts als eine böse Gehirnerschütterung, Schulterprellungen, einen Bluterguß im rechten Knie, ein paar Schnittwunden und eine Menge Hautabschürfungen. Sie scheinen einen unwahrscheinlich tüchtigen Schutzengel zu haben, junger Freund.«
    »Wie lange liege ich hier?«
    »Sie wurden vor drei Stunden eingeliefert.«
    »Was ist das hier?«
    »Das Städtische Krankenhaus.«
    »Und was ist der Maschine passiert?«
    »Ich hörte von den Sanitätern, die Sie eingeliefert haben, daß man Sie aus einem Trümmerhaufen herausgeholt hat«, antwortete Schwester Kordula mit ihrem sonoren, männlichen Organ. »Jetzt aber muß ich Sie dringend bitten, nicht soviel zu sprechen und zu fragen. Ich habe Herrn Doktor Schwenninger soeben von Ihrem Erwachen unterrichtet und nehme an, daß er sofort erscheinen wird. Er ist der Stationsarzt.«
    Fast im gleichen Augenblick wurde die Tür geöffnet, und Dr. Schwenninger trat ins Zimmer. Ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, imponierend durch seine Größe, seinen Brustumfang und eine Handschuhnummer, die es nicht ratsam erscheinen ließ, sich mit ihm zu verfeinden.
    »Na, Schwester Kordula, was macht unser Bruchpilot?«
    »Er redet zuviel, Herr Doktor.«
    »Blödsinn?«
    »Nein, eigentlich ganz vernünftig.«
    »So? Na, das ist ja erfreulich.«
    Er trat zu Michael ans Bett, grinste aus einem Meter neunzig Höhe auf ihn herunter, schlug die Decke zurück und begann, Michael zu untersuchen. Er tat es gewissenhaft und gründlich, klopfte die Schädeldecke seines Patienten Punkt für Punkt ab, ließ Michael kräftig atmen, horchte die Brust mit dem Stethoskop ab, drückte mit den Fingerspitzen auf jede einzelne Rippe, fühlte den Puls, maß den Blutdruck, tastete Arme und Beine ab und knetete an jedem Gelenk herum. Erstaunlich, wie zart seine Finger waren. Trotzdem stöhnte Michael zuweilen auf. Er biß die Zähne zusammen, als er merkte, daß diese Schmerzenslaute den Doktor nur veranlaßten, sich intensiver mit seinen Knochen, Gliedmaßen und Gelenken zu beschäftigen. Die Untersuchung, deren Ergebnis Michael mit nicht geringerer Spannung entgegensah als der Arzt, dauerte eine gute halbe Stunde lang.
    »Erstaunlich!« murmelte der Doktor schließlich, als er sich aufrichtete. »Ich war dabei, als man Sie aus der Kanzel sägte. So, wie die Geschichte zuerst aussah, hätte ich auf Sie nicht einen Pfennig gesetzt.«
    »Und jetzt haben Sie festgestellt, daß mir nichts fehlt, wie?« grinste Michael.
    »Ihnen scheint nichts zu fehlen«, antwortete Dr. Schwenninger vorsichtig, »jedenfalls nichts Ernstliches. Zur Vorsicht werde ich Sie aber doch ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten. Ganz abgesehen davon, daß Ihr rechtes Knie Ihnen eine Weile zu schaffen machen wird. Ein Bluterguß wie ein Fußball.«
    Er nahm die Eisbeutel, die er während der Untersuchung auf den Nachttisch gelegt hatte, und drückte sie wieder auf Kopf, Schultern und Beine des Patienten.
    »Wie fühlen Sie sich sonst?«
    »Dank für die gütige Nachfrage! Mir brummt der Schädel ein wenig. Und wenn ich spreche, dann dröhnt jedes Wort wie ein Paukenschlag.«
    »Dann halten Sie doch gefälligst den Mund. — Ich habe Sie übrigens sofort nach der Einlieferung röntgen lassen. Das Schädeldach ist heil. Eine Wirbelstauchung habe ich nicht
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