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Die letzten Tage

Die letzten Tage

Titel: Die letzten Tage
Autoren: Dana Kilborne
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zurückgeblieben.
    Mit jedem Schritt, den sie tat, verstärkte sich das Unbehagen, das sie immer überfiel, wenn sie hierherkam. Es war eine Mischung aus Trauer, Wut und Angst. Gleichzeitig fühlte sie sich unerklärlicherweise aber auch wohl an diesem Ort. Sie mochte die Ruhe und den Frieden hier, und selbst im Hochsommer sorgten die vielen schattigen Bäume dafür, dass es nie zu heiß wurde.
    Von Hitze konnte heute jedoch keine Rede sein, und das lag nicht nur am hereinbrechenden Abend. Schwere dunkle Wolken waren am Himmel aufgezogen und drückten die Temperaturen unter die Fünfzehn-Grad-Marke, was für Rom in den Sommermonaten keineswegs normal war. Angesichts der anderen seltsamen Naturereignisse, die in letzter Zeit überall auf der ganzen Welt passierten, erschien es allerdings eher unspektakulär.
    Erst gestern hatte Grazia in den Nachrichten von einem Kometenschauer gehört, der über Südafrika niedergegangen war. Die Bilder waren eindrucksvoll und zugleich Furcht einflößend gewesen – so, als würden die Sterne vom Himmel fallen. Und dabei handelte es sich nicht um das erste Phänomen dieser Art. Seit Wochen bedeckte ein ständig anwachsender, leuchtend roter Ring aus Feuerquallen die Küste der Balearen und sorgte dafür, dass auf den Urlaubsinseln Mallorca und Ibiza die Gäste fernblieben. Währenddessen wurde der Mittlere Westen der USA von einer späten und besonders heftigen Tornadosaison heimgesucht, die die Einwohner in Angst und Schrecken versetzte.
    Als Grazia die letzte Ruhestätte ihrer Mutter erreichte, die sich etwas abseits in der Nähe der östlichen Friedhofsmauer befand, blieb sie stehen. Das Grab lag im Schatten einer alten, hochgewachsenen Eiche. Weil selbst bei schönem Wetter nicht viel Sonne darauf fiel, gediehen die Blumen hier nicht so üppig, doch das empfand Grazia nur als passend. Bunte Farben gehörten ihrer Meinung nach ebenso wenig hierher wie Fahrradfahrer und lärmende Schulklassen. Das war einer der Gründe, warum sie immer sonntags, kurz bevor die Tore geschlossen wurden, herkam. Sie sehnte sich nach der Ruhe und Erhabenheit, die dieser Ort ausstrahlte. Etwas, das sie für eine Weile vergessen ließ, wie verrückt und hektisch es in der Welt dort draußen hinter den hohen Friedhofsmauern zuging.
    Sie legte die weiße Lilie, die sie mitgebracht hatte, auf das Grab und blickte nachdenklich den Grabstein, der die Form eines betenden Engels hatte, an. Wie immer, wenn sie hier war, geisterte ein und dieselbe Frage ununterbrochen durch ihren Kopf.
    Wie konntest du einfach weggehen, mamma ? Ich war deine Tochter, und ich hätte dich gebraucht! Hattest du mich denn überhaupt nicht lieb?
    Seufzend schob sie diesen traurigen Gedanken und die Melancholie, die damit einherging, weit von sich. Sie wusste, dass es nichts brachte, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Antworten auf ihre Fragen würde sie ohnehin niemals erhalten. Ihre Mutter konnte ihr sie nicht mehr geben, und ihr Vater …
    Grazia runzelte die Stirn. Sie wusste nicht, woran es lag, aber irgendetwas war heute anders als sonst. Es lag etwas in der Luft, das bei ihr ein seltsames Gefühl hervorrief. Etwas Seltsames, das sie hier noch nie verspürt hatte.
    Das Gefühl drohenden Unheils.
    Sie schüttelte den Kopf. Unsinn! Sie war einfach nur ein bisschen durcheinander, mehr nicht. Oder aber die angespannte Stimmung, die momentan über ganz Rom lag, begann langsam aber sicher auf sie abzufärben. Es war eine Atmosphäre wie kurz vor einem Gewitter, wenn die Luft vor elektrischer Spannung vibrierte. Doch anders als bei einem aufziehenden Sturm verschwand dieses Prickeln nicht nach einem heftigen Regenguss, sondern hielt die Stadt nun schon seit Tagen in Atem. Und allmählich fingen die ersten Leute an durchzudrehen.
    Die Gewaltbereitschaft unter den Bürgern war plötzlich angestiegen. Selbst normalerweise vollkommen friedliebende Menschen verwandelten sich von einem Tag auf den anderen in brutale Schläger, und diejenigen, die ohnehin schon zu Wutausbrüchen neigten, verloren vollkommen die Kontrolle über sich.
    Grazia wusste es aus erster Hand – schließlich arbeitete sie beim Morddezernat im Dipartimento Cinque der römischen Kriminalpolizei.
    Noch einmal strich sie mit den Fingern über die samtige Blüte der Lilie, dann stand sie auf. „ Buona notte “ , verabschiedete sie sich mit einem traurigen Lächeln. „Schlaf schön …“
    Ganz gleich, wie oft sie auch herkam – wenn sie ging, überfiel sie jedes Mal
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