Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
bleiben und sich ihrem Weinen hingeben, das in wenigen Sekunden einem Dammbruch gleichen würde. Sie nahm ihren Koffer hoch, stolperte schluchzend und fast blind vorwärts. Die Toilette. Irgendwo musste doch eine Toilette sein. Sie wollte in der Abgeschlossenheit einer kleinen, stinkenden Kabine verschwinden, allein im Dämmerlicht, verborgen vor den hastenden, rufenden, eilenden, glotzenden Menschen ringsum.
    Auf einem Klodeckel zusammensinken können, sich vornüber zusammenrollen wie ein Embryo und weinen, weinen, weinen …
    Durch den Schleier vor ihren Augen nahm sie das ersehnte Schild wahr. Die kleinen Piktogramme, die eine Möglichkeit zum Verstecken verhießen. Den Koffer hinter sich her zerrend, stolperte sie auf die Tür zu, fast blind von Tränen, stieß sie auf und prallte mit einem Mann zusammen, der den weiß gekachelten, menschenüberfüllten Raum gerade verlassen wollte.
    »Hoppla«, sagte er.
    Sie wollte an ihm vorbeidrängen, aber er hielt sie am Arm fest. »Entschuldigen Sie. Das ist die Herrentoilette. Möchten Sie da wirklich hinein?«
    Obwohl sie schluchzte und zitterte, drangen die Worte irgendwie an ihr Ohr.
    Sie starrte den Fremden an. »Die Herrentoilette?«, fragte sie in einem Ton, als habe sie dieses Wort noch nie gehört.
    »Sie müssen eigentlich eine Tür weiter«, sagte er und zeigte nach nebenan.
    »Ach so«, sagte sie, ließ den Koffer neben sich auf den Boden fallen und weinte weiter.
    Da andere Männer sowohl in die Toilette hinein- als auch herauswollten und sie beide den Weg blockierten, nahm der Fremde Elaines Koffer hoch und zog Elaine ein paar Schritte mit sich, bis sie in einer Ecke standen, in der sie niemanden störten.
    »Hören Sie«, sagte er, »kann ich irgendetwas für Sie tun? Ich meine … sind Sie ganz allein auf dem Flughafen, oder ist irgendwo …?« Er ließ seinen Blick schweifen, so als hege er die Hoffnung, aus der unüberschaubaren Menschenmenge werde jemand auftauchen und ihm die haltlos weinende Frau abnehmen. Da sich weder jemand zeigte, der zu der Fremden zu gehören schien, noch von dieser eine Antwort kam, kramte er schließlich ein Taschentuch hervor und reichte es ihr.
    »Beruhigen Sie sich doch. Bestimmt ist alles nur halb so schlimm. Na, geht's wieder?«
    Tatsächlich fühlte sie sich ein wenig ruhiger durch seine besänftigende Stimme. Sie entfaltete das Taschentuch, schnäuzte sich kräftig, betupfte ihr nasses Gesicht.
    »Entschuldigen Sie bitte«, brachte sie leise hervor.
    »Keine Ursache«, sagte er. Sie hatte den Eindruck, dass er gern weitergegangen wäre, jedoch aus irgendeinem Verpflichtungsgefühl heraus unschlüssig stehen blieb.
    »Es ist nur … mein Flug nach Malaga ist gestrichen«, murmelte sie und kam sich gleich darauf albern vor.
    Er lächelte. »Jeder Flug von London ist heute Abend gestrichen. Verdammter Nebel. Ich wollte nach Berlin und kann jetzt auch wieder nach Hause fahren.«
    »Eine Freundin von mir heiratet morgen in Gibraltar.«
    »Vielleicht schaffen Sie es ja morgen früh noch. Falls der Flugverkehr dann wieder aufgenommen wird.«
    Ihr stiegen schon wieder die Tränen in die Augen. »Vielleicht …«
    Er wirkte genervt. Kurz überlegte sie, was wohl in ihm vorging. Wahrscheinlich fragte er sich, weshalb er solches Pech haben musste an diesem Tag. Er kam nicht nach Berlin, und vielleicht platzte ihm dadurch ein wichtiges berufliches Vorhaben. Und dann stieß er noch mit einer verheulten, unattraktiven Frau zusammen, die konfus in die Herrentoilette zu stolpern versuchte, und war zu anständig, sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen.
    »Also, ich fahre jetzt nach Hause«, sagte er, »kann ich Sie irgendwo absetzen? Ich habe meinen Wagen hier am Flughafen.«
    »Ich wohne nicht in London.« Sie schnäuzte sich noch einmal. Ich muss toll aussehen, dachte sie resigniert, mit rot geflecktem Gesicht und dicker Nase. »Ich wohne in … ach, da komme ich unmöglich heute noch hin. Am Ende der Welt. Ausgeschlossen.«
    »Na ja …« Er sah sich um. »Hier am Flughafen übernachtet man nicht gerade komfortabel. Irgendein Hotel …?«
    »Ich weiß nicht, ob noch irgendwo ein Zimmer frei ist. Außerdem …«
    »Ja?«
    Es spielte eigentlich keine Rolle mehr, es war ohnehin schon alles peinlich genug, »Außerdem reicht dafür mein Geld wahrscheinlich nicht. Das Hotel in Gibraltar muss ich bestimmt bezahlen, selbst wenn ich heute dort nicht erscheine …«
    »Unter Umständen auch nicht«, meinte er, »aber Sie haben natürlich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher