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Die Letzte Spur

Die Letzte Spur

Titel: Die Letzte Spur
Autoren: Charlotte Link
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bequemen Platz für die Nacht suchen.
    Schon wieder wollten ihr die Tränen kommen. Minutenlang blieb sie mit hängenden Armen inmitten des Chaos stehen, unfähig, sich zu rühren, unfähig, einen vernünftigen Plan zu fassen. Das Stimmengewirr der Menschen schwoll an zu einem Orkan. Lautsprecheransagen übertönten den Lärm. Vorbeihastende Reisende rempelten sie an. Sie vermochte nicht zu reagieren. Sie stand nur da, in ihrem abgetragenen braunen Wintermantel, der schon nicht elegant gewesen war, als sie ihn vor vier Jahren gekauft hatte, und der jetzt wie ein Sack aussah, den sie sich um die Schultern gehängt hatte. Neben ihr stand ihr Koffer. In der einen Hand hielt sie ihre Plastikhandtasche, eine Designerimitation, die bei Woolworth zehn Pfund gekostet hatte. Mit der anderen Hand umklammerte sie ihren Pass, der in ihrer Manteltasche steckte. Bereit zum Vorzeigen. Was sich offensichtlich für heute erledigt hatte.
    Ich muss überlegen, was ich jetzt mache, dachte sie schließlich.
    Sie hatte etwas sehr Leichtsinniges getan und sich für Rosannas Hochzeit ein wirklich teures Kleid gekauft. Für gewöhnlich ging sie sehr vorsichtig mit ihrem Geld um, denn ihre Halbtagsstelle in einer Arztpraxis im nahe gelegenen Taunton brachte nur wenig ein. Geoffrey erhielt eine kleine Rente, und so kamen sie halbwegs über die Runden. Es reichte nie für große Sprünge, aber trotzdem hatte Elaine dann und wann etwas zur Seite legen können, ihren Notgroschen, wie sie es nannte. Er war natürlich für echte Engpässe gedacht gewesen, nicht für ein schickes Kleid und einen Flug nach Gibraltar, aber plötzlich hatte sie gedacht: So etwas muss es doch für mich auch einmal geben! Ein schönes Kleid! Ein tolles Fest! Ein bisschen … Unvernunft.
    Sie erlaubte sich für gewöhnlich wenig Unvernunft in ihrem Leben. Ein pflegebedürftiger Bruder im Rollstuhl ließ kaum Spielraum für alles, was leicht und unbesonnen war. Und Geoffrey selbst, als der Mensch, der er nun einmal war, ließ überhaupt in jeder Hinsicht wenig Spielraum.
    Er war wie ein Krake. Mit langen, starken Schlingarmen. Er hielt sie fest, er hielt das Einzige fest, was ihm im Leben geblieben war: seine Schwester. Er würde sie niemals loslassen.
    Und offensichtlich stand jeder Emanzipationsversuch ihrerseits unter einem schlechten Stern. Denn kaum raffte sie sich auf, dem Schicksal einen Spalt breit die Tür zu öffnen, verschworen sich alle Mächte gegen sie. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie sie nach einer Nacht aussehen würde, die sie sitzend in dieser überfüllten Abflughalle verbrachte. Wenn sie Glück hatte, ging morgen ein Flieger, der aber in jedem Fall so knapp landen würde, dass an einen kurzen Rückzug in ihr Hotel nicht mehr zu denken war. Wahrscheinlich musste sie sich in einer öffentlichen Toilette auf dem Flughafen von Malaga umziehen, wo es keine Chance gab, zu duschen oder wenigstens ihre Haare zu waschen und einigermaßen in Form zu föhnen. Das Kleid würde völlig zerdrückt und verknittert sein. Abgehetzt und wie ein struppiger Besen aussehend, würde sie im letzten Moment in der Kirche eintreffen. Während der gesamten Feierlichkeiten wäre sie sich ihrer unvorteilhaften Erscheinung mit quälender Intensität bewusst, und von irgendeinem Moment an würde sie die Minuten bis zu ihrer Heimreise zählen. So viel zu Leichtigkeit und Lebenslust!
    Wieder einmal würde sie das gewohnte Bild abgeben, jeder würde sehen, dass sich nichts geändert hatte. Rosanna, die Braut, war natürlich da. Ihre Eltern. Ihr Bruder. Menschen, die Elaine kannte, seit sie auf der Welt war. Die ihr Heranwachsen begleitet hatten. Die nur zu gut wussten, dass sie schon immer auf der Schattenseite des Lebens gestanden hatte. Wie hatte es Geoffrey so schön zitiert? Wir müssen der lieben, armen Elaine etwas Gutes tun …
    Die liebe Elaine. Die arme Elaine. Zu deren Gesamtgeschichte es so perfekt passte, dass ihr Flug wegen Nebels gestrichen wurde, dass sie fast das Fest versäumte, dass sie in einem Kleid erschien, das wie eine einzige große Knitterfalte aussah. Ungeduscht und ungekämmt. Unscheinbar sowieso.
    Die arme Elaine, wie sie leibt und lebt , würde es heißen.
    Jetzt schossen ihr die Tränen mit solcher Gewalt in die Augen, dass sie sie nicht mehr zurückhalten konnte. Ein Mann sah sie erstaunt an. Zwei Frauen tuschelten und blickten zu ihr herüber. Ein Kind deutete auf sie und wandte sich dann aufgeregt an seine Mutter.
    Sie konnte nicht hier stehen
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