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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage
Autoren: Keren David
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es deiner Mutter denn?«, fragt Helen. Es hört sich an, als würde sie sich auch große Mühe geben, einen guten Eindruck zu machen. »Diese Situation muss ja schrecklich für sie sein. Zum Glück ist Julie bei ihr.«
    Julie ist meine Gran. Den Namen muss Helen von Louise haben.
    »Ähm … Keine Ahnung, wie’s ihr geht«, antworte ich.»Im Streifenwagen ist sie fast ausgeflippt. Gran musste ihr eine scheuern.«
    »Das wundert mich nicht. Arme Nicki.«
    Ich überlege wie verrückt, ob Gran oder Nicki jemals irgendwelche reichen Leute namens Helen und Patrick erwähnt haben, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diese Namen nie gehört habe.
    »Zum Glück kann Julie mit Krisen hervorragend umgehen«, sagt Helen. »So weißt du wenigstens, dass deine Mutter in guten Händen ist.«
    Auch das noch! Jetzt steigen mir Tränen in die Augen! Meine Schutzfolie löst sich ab. Ich will nicht, dass Gran sich um meine Mum kümmert. Ich will, dass sie sich um mich kümmert. Ich drehe rasch den Kopf weg, und mein Blick fällt auf ein Foto, auf dem eindeutig ich zu sehen bin. Es ist das Abschlussfoto aus dem letzten Jahr auf der St. Lukes, meiner alten Schule. Es steckt in einem kleinen Rahmen und steht in einer Reihe anderer Fotos von Kindern in Schuluniform – vermutlich Helens und Patricks Enkel. Aber was hat mein Bild dort zu suchen?
    Ach du …!
    Nein, bitte nicht!
    Herr im Himmel!
    Das darf nicht wahr sein. Das kann Louise unmöglich getan haben. Aber welche andere Erklärung sollte es dafür geben?
    »Möchtest du ein Sandwich, mein Liebling?«, fragt Helen, während ich noch wie wild nach Alternativen suche.Dieser Ausdruck »mein Liebling« besiegelt die Sache. So etwas sagt man nicht zu einem Teenager, der einem eben erst vor die Haustür gekarrt worden ist und den man einer Freundin zuliebe bei sich aufnimmt. Es sei denn, man ist völlig übergeschnappt oder Amerikaner oder beides. Wie konnte mir meine Tante das bloß antun?
    Ich nicke, sprachlos vor Entsetzen. Sie geht in die Küche. Als ich allein bin, suche ich fieberhaft nach etwas, das mir verrät, ob ich richtigliege. Auf dem Kaminsims liegen ein paar Briefe; ich nehme einen und suche nach einem Namen, der mir verrät, ob meine Vermutung stimmt. Auf dem Umschlag steht nichts, also ziehe ich den Brief heraus und überfliege ihn nach irgendwelchen Namen.
    Hilfe, nein! Mr Patrick Tyler. Oh Gott.
    Das sind nicht die Eltern von Sally, der überdrehten Erdkundelehrerin. Das sind die Eltern von Danny Tyler, meinem absolut unnötigen, absolut abwesenden Vater, der abgehauen ist, als ich zwei Jahre alt war, und sich seither nicht mehr um uns gekümmert hat.
    Wie aufs Stichwort kommt Patrick herein. Mr Patrick Tyler, der also mein Großvater sein muss. Patrick, dem ich fast eine aufs Maul gehauen hätte. Ein wirklich toller Anfang unserer Beziehung.
    »Tyler, es wäre mir sehr lieb, wenn du unsere persönlichen Sachen liegen lassen würdest«, sagt er und der Teufelshund knurrt mich leise an. Ich lege den Brief sofort wieder hin, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich jemals wieder sprechen kann.
    Helen bringt mir ein Käsesandwich, aber ich kriege keinen Bissen runter. Sie sieht mich besorgt an und sagt: »Du bist bestimmt sehr erschöpft. Soll ich dir dein Zimmer zeigen, dann kannst du duschen und dich ausruhen.«
    »Ja, vielen Dank«, murmele ich. Ich muss hier weg. Sie führt mich zwei Treppen hinauf und sagt: »Ich bringe dich im Dachgeschoss unter, hier oben hast du mehr Platz und bist auch ungestörter.«
    Ich stelle mir einen staubigen, dunklen, kahlen Raum voller Spinnweben vor und sage: »Ja, auch gut.«
    Aber als wir dort oben ankommen, sieht es überhaupt nicht so aus. Das Zimmer ist groß, hat einen Holzfußboden, hellblau gestrichene schräge Wände und ein Fenster, das auf einen großen Garten hinausgeht. Außerdem gibt es ein Bad ganz für mich alleine. Wenn man nach oben schaut, sieht man die Dachbalken an der Decke.
    Auf einer Seite steht ein Stockbett, und dort, wo die Wand schräg wird, ein großes Doppelbett mit Eisengestell und einer bunten Steppdecke drauf. Daneben steht eine Spielzeugkiste, außerdem sehe ich einen Tisch mit Stiften und Papier und Wachsmalkreiden, ein Bücherregal mit lauter Kinderbüchern. Ich sehe eine Autowerkstatt mit vielen Spielzeugautos. Ein riesiges Puppenhaus. Mitten im Zimmer steht ein bemaltes Schaukelpferd, an der Wand sitzt eine ganze Reihe altmodischer Puppen mit Porzellangesichtern. Mit sechs wäre ich bestimmt
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