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Die letzte Aussage

Die letzte Aussage

Titel: Die letzte Aussage
Autoren: Keren David
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Die grauhaarige Frau trägt einen hellblauen Pullover und einen dunkelblauen Rock und sie lächelt – ein echt komisches, leicht schiefes Lächeln. Sie kommt mir irgendwie bekannt vor, und ich überlege, an welche von Lous Lehrerfreundinnen sie mich wohl erinnert. Der alte Mann ist sehr groß, hat dunkle, buschige Augenbrauen und macht ein finsteres Gesicht. Er hat eine Tweedjacke an.
    Louise glaubt doch nicht im Ernst, dass ich hier bleibe – oder?
    »Kommt rein, kommt rein«, sagt die Frau mit einer Super-vornehm-Stimme, dann umarmt sie Lou ganz fest. Wann erzählt mir Louise endlich, wer die beiden sind? Allem Anschein nach ist sie der Meinung, dass sie das längst getan hat. Also muss ich es wohl selbst herausfinden.
    Die Frau lässt Lou wieder los und jetzt sehen alle mich an, und ich starre auf meine Turnschuhe, die immer noch sandig vom Strand sind.
    »Herzlich willkommen, Tyler«, sagt die Frau mit ihrer Radionachrichtenstimme. »Wir freuen uns sehr, dich bei uns zu haben.«
    Ich murmle etwas, und Lou sagt: »Ty hat einen grässlich traumatischen Tag erlebt, Helen, ich glaube nicht, dass er momentan viel auf die Reihe kriegt.«
    »Das ist doch verständlich«, sagt sie. »Kommt rein und setzt euch. Ich bringe gleich Tee.«
    Sie führt uns ins Wohnzimmer, das – ich schwöre es – größer als unsere gesamte Wohnung in London ist. In einer Ecke steht ein Riesenklavier, der Boden ist aus Holz und überall liegen zart gemusterte Teppiche. Ich sehe ein blaues, samtartiges Sofa und Lehnsessel und blaue Vorhänge, die aussehen, als wären sie aus Seide. Alles ist so aufgeräumt, dass man sich wie im Museum vorkommt und nicht wie bei irgendwem zu Hause. Einen Fernseher kann ich nirgends entdecken.
    Über dem Kaminsims hängt ein riesiger Spiegel, in dem ich mich kurz sehe. Mein Gesicht ist bleich und schmuddelig, auf dem Kinn habe ich einen großen, kackbraunen Streifen. Meine Haare kleben vom getrockneten Schweiß zusammen und hängen mir bis über die Augen. Ach ja: und mein Mund steht vor Staunen weit offen.
    »Ich heiße Patrick«, sagt der alte Typ und sieht mich so finster an, als bereue er bereits, dass er Lou erlaubt hat, mich näher als fünfzig Meilen an sein Haus heranzubringen. »Möchtest du etwas trinken? Louise?« Ich schüttele den Kopf und klappe den Mund wieder zu, und sie sagt nein, lieber nicht, weil sie ja noch fahren muss. Das heißt, sie will mich wirklich hierlassen. Der Mann gießt sich einen Whisky ein.
    »Dann … bist du also Tyler, was?«, sagt er zu mir mit seiner tiefen, schroffen Stimme. »Lass dich mal ansehen, Junge.«
    Er hört sich an wie ein Feldwebel bei der Armee. Ich senke den Kopf, aber Louise zieht meine Kapuze runter.Wir setzen uns. Er mustert mich von oben bis unten, als wollte er mich kaufen. Ich mag das nicht. Und ich mag ihn nicht. Ich ziehe die Kapuze wieder hoch und lehne mich mit verschränkten Armen in den Sessel zurück. Dann strecke ich die Beine aus, bis meine Turnschuhe den cremefarbenen Teppich berühren. Louise sieht mich böse an, dann unterhält sie sich mit Patrick über das Haus. Ob sie viele Besucher bekommen, will sie wissen, und ob es wohl möglich wäre, dass ich hierbleibe, ohne dass jemand etwas davon mitkriegt.
    Helen bringt den Tee auf einem Tablett: eine geblümte Kanne und kleine Teetassen, ein Milchkännchen, eine Zuckerdose und ein Teller mit Keksen, die aussehen wie von Marks & Spencer . Es kommt mir vor, als wären wir zum Tee im Buckingham Palace. In unserer Wohnung hätte es große Tassen, Teebeutel und die billigen Cremekekse von Lidl gegeben. Aber das Geschirr erinnert mich auch an Grans bestes Porzellan, das sie nur zu besonderen Anlässen rausholt. Ich frage mich, ob es immer noch in ihrer alten Wohnung in London steht.
    Ich trinke meinen Tee in ungefähr drei Sekunden und verdrücke zwei Kekse, ich bin schon halb verhungert. Ich hatte recht, die Dinger sind wirklich von Marks & Spencer , Gran hat sie höchstens zweimal im Jahr gekauft, zu besonderen Anlässen. Aber jede Wette, dass diese Leute immer dort einkaufen. Ich lecke mir den Zeigefinger, um die letzten Krümel von meinem Teller aufzusammeln. Dann merke ich, dass mich alle beobachten und knabbere stattdessen am Fingernagel herum.
    Louise erzählt ihnen von den vergangenen Monaten meines Lebens. Dass ich gesehen habe, wie ein Junge erstochen wurde, und dass einer der Angeklagten mein bester Freund Arron ist. Dass ein anderer Angeklagter – Jukes White – aus einer Familie
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