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Die Lennox-Falle - Roman

Die Lennox-Falle - Roman

Titel: Die Lennox-Falle - Roman
Autoren: Heyne
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führte, lag knapp hundert Meter unter ihm. Die linke Hand des alten Mannes hielt einen Karabiner fest, dessen Schulterriemen gestrafft war. Das Visier der Waffe war auf die exakte Entfernung eingestellt. Die Waffe war schußbereit. Bald würde sein Ziel - ein Mann, der noch älter war als er - im Fadenkreuz des Zielfernrohrs erscheinen. Das Monster würde in seinen wallenden Morgenrock gehüllt seinen morgendlichen Spaziergang zur Terrasse machen, und als Belohnung für seine sportliche Leistung würde ihn sein Morgenkaffee mit einem Schuß erlesenen Cognacs erwarten. Eine Belohnung freilich, die er an diesem Morgen nicht mehr würde genießen können. Stattdessen würde er sterben, würde zwischen den Blumen zusammenbrechen: der Tod des Inbegriffs des Bösen inmitten von Schönheit, eine passende Ironie des Schicksals.
    Jean-Pierre Jodelle, achtundsiebzig Jahre alt und einstmals ein leidenschaftlicher Anführer der Résistance, hatte fünfzig Jahre gewartet, um ein Versprechen zu erfüllen, eine Verpflichtung, die er vor sich und seinem Gott eingegangen war. Vor Gericht war er gescheitert; nein, nicht gescheitert, beleidigt hatte man ihn, alle hatten sie über ihn gelacht und ihm gesagt, er solle doch seine albernen Phantasievorstellungen in eine Zelle in einer Irrenanstalt mitnehmen, wo er hingehörte. Der große General Monluc war ein wahrer Held Frankreichs, ein enger Gefährte Charles André de Gaulles, des glanzvollsten aller Soldaten und Staatsmänner, der während des ganzen Krieges über die Radiofrequenzen der Untergrundbewegung mit Monluc in Verbindung geblieben war.

    Es war alles merde! Monluc war ein Wendehals, ein Feigling und ein Verräter! Dem arroganten De Gaulle hatte er Belanglosigkeiten geliefert, die er als nachrichtendienstliche Erkenntnisse hinstellte, und sich zugleich die eigenen Taschen mit dem Gold der Nazis gefüllt. Und dann, als alles vorüber war, hatte le grand Charles voll euphorischer Begeisterung Monluc als einen Mann, dem Ehre gebührte, bezeichnet. Für ganz Frankreich kam das einem Befehl gleich.
    Merde! Wie wenig De Gaulle doch gewußt hatte! Monluc hatte die Exekution von Jodelles Frau und seines ersten Sohnes, eines fünfjährigen Kindes, angeordnet. Ein zweiter Sohn, ein sechsmonatiger Säugling, war verschont worden, vielleicht wegen der verdrehten Logik des Wehrmachtsoffiziers, der gesagt hatte: »Er ist kein Jude, vielleicht findet ihn jemand.«
    Es fand ihn jemand. Ein Mitkämpfer aus der Résistance, ein Schauspieler von der Comédie Française. Er fand das schreiende Baby inmitten des verwüsteten Hauses am Rande von Barbizon, wo er sich am Morgen darauf zu einem Geheimtreffen hätte einfinden sollen. Der Schauspieler hatte das Kind seiner Frau nach Hause gebracht, einer gefeierten Schauspielerin, die die Deutschen verehrten - eine Zuneigung, die sie nicht erwiderte, denn ihre Auftritte waren befohlen, nicht etwa freiwillig geleistet. Und als der Krieg zu Ende ging, war Jodelle ein Skelett seines früheren Ichs, physisch nicht mehr wiederzuerkennen und geistig nicht mehr herzustellen, und das wußte er auch. Drei Jahre in einem Konzentrationslager, in dem er die Leichen vergaster Juden, Zigeuner und »Unerwünschter« aufeinandergestapelt hatte, hatten ihn beinahe zu einem Idioten gemacht, einem Mann mit einem beständigen nervösen Tic am Hals, unkontrollierbarem Blinzeln, plötzlichem kehligen Aufschreien und all dem anderen, das mit solch schweren psychischen Schäden einherging. Er hatte sich seinem überlebenden Sohn oder den »Eltern«, die ihn aufgezogen hatten, nie zu erkennen gegeben. Stattdessen beobachtete Jodelle auf seinen Zügen durch die Eingeweide von Paris, bei denen er immer wieder seinen Namen wechselte, aus der Ferne wie das Kind langsam zum Mann heranwuchs und nach und nach einer der populärsten Schauspieler Frankreichs wurde.

    Und Monluc, das Monstrum, das sich jetzt auf das Fadenkreuz in Jodelles Zielfernrohr zubewegte, hatte diese Trennung und diesen unerträglichen Schmerz verursacht. Nur Sekunden noch und das Versprechen würde erfüllt sein, das er vor Gott abgelegt hatte.
    Plötzlich war ein schrecklicher Knall zu hören, und Jodelles Rücken stand in Flammen, so daß er den Karabiner fallen ließ. Er fuhr herum und blickte erschreckt auf die zwei Männer in Hemdsärmeln, die auf ihn herunterblickten und von denen einer eine Bullenpeitsche in der Hand hielt.
    »Es wäre mir ein Vergnügen, dich zu töten, du kranker alter Idiot, aber dein
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