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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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Möbeln verarbeitete, früh am Morgen mit einem Fuhrwerk vom Bahnhof zum Holzschuppen geschafft wurden.
    Meine Mutter schlief noch. Mein Vater stand auf, warf einen Blick aus dem Fenster, auf das verfallene Gutshaus mit dem eingebrochenen Dach, von dem sie gestern Abend in der Dunkelheit nur Umrisse hatten erkennen können, und auf die Straße mit dem Kopfsteinpflaster, auf der ein Pferdefuhrwerk hinaus in die Felder fuhr. Er ging zu dem Ofen, der in der Ecke stand, und als er die Hand auf die Kacheln legte, konnte er noch einen Rest Wärme spüren. Er hockte sich hin, öffnete die rußige Klappe und zog die staubige Kiste mit den alten Zeitungen und dem Anmachholz heran, |225| Handgriffe, die er das letzte Mal als Kind ausgeführt hatte. Er zerknüllte Papier, nicht zu fest, damit es sich an der Glut, die sich im Ofen über Nacht gehalten hatte, entzünden konnte. Dann schichtete er Holz darüber, erst Späne, dann dünne Scheite. Zuletzt legte er Briketts in den Ofen, öffnete die untere Klappe, die den Luftzug regulierte, und wartete auf die vertrauten Geräusche, auf das leise Fauchen, mit dem das Zeitungspapier Feuer fing, und auf das Knacken des trockenen Brennholzes.
    Mein Vater legte noch einmal die Hände auf die warmen Kacheln, dann zog er sich eine Hose und einen Pullover über und öffnete die Tür zur Küche. Józef war bereits wach, er saß unter einer nackten Glühbirne am Tisch, in der Hand eine Zigarette. Auf dem Herd in der Ecke köchelte ein Kessel mit Wasser, und die Fensterscheiben waren beschlagen. Vor ihm auf dem Tisch lag der Taschenrechner, den mein Vater ihm am Abend zuvor überreicht hatte.
    Als Józef plötzlich im Licht der Scheinwerfer aufgetaucht war, hatte es keine Umarmung gegeben, nur ein Händeschütteln, und als sie sich verlegen auf dem Gehsteig vor dem Fleischergeschäft gegenüberstanden, fiel meinem Vater auf, dass Józef fast einen Kopf kleiner war als er selbst. Sie waren wieder ins Auto gestiegen, und Józef lotste meinen Vater durch die Dunkelheit. Sie fuhren nicht weit, nur ein paar hundert Meter die Straße zurück, auf der sie hergekommen waren. Dann bogen sie ab und hielten vor einem großen Anwesen, dem ehemaligen Gutshof von Steblau. Józef führte sie zu einem kleinen Gesindehaus. Er schloss die Tür auf, es roch nach kaltem Zigarettenrauch. Józef sagte, ein Bekannter von ihm sei für ein paar Tage verreist |226| und habe ihm die Wohnung für die Zeit überlassen: »Hier können wir alles besprechen.«
    Es gab nur ein Zimmer, ein Wohnzimmer, das gleichzeitig als Schlafzimmer genutzt wurde, mit einem Sofa, das sich zu einem schmalen Bett ausklappen ließ. Die Toilette war in einem Holzverschlag hinter dem Haus untergebracht, eine Taschenlampe lag bereit für den Weg über den Hof. Józef legte Kohle im Ofen nach, dann stellte er in der Küche drei angeschlagene Teller auf den Tisch, Brot, Butter, Leberwurst in Dosen, Bier und eine Flasche Wodka. Seine Hand zitterte, als er den Schnaps eingoss, und das erste Glas kippte er in einem Zug hinunter. Er sah meinen Eltern beim Essen zu. Als sie fertig waren, schenkte er noch einmal nach, dann griff er zu den Zigaretten und erzählte von dem Tag, an dem er meinen Vater vor dreißig Jahren in Fürstenau zum letzten Mal gesehen hatte. »Deine Mutter stand auf der Treppe vor eurem Haus«, sagte er. »Sie hielt dich auf dem Arm, und du hast zum Abschied gewinkt.«
    Er ließ noch einmal jene Legende erstehen, die er selbst in den Jahren nach dem Krieg in Polen geschaffen hatte, die Geschichte von dem polnischen Soldaten, der unter dem Decknamen Józef Chmielewski für sein Vaterland in den Kampf gegen die Wehrmacht zieht und sich nach dem Krieg in einer deutschen Kleinstadt in die Tochter eines Tischlers verliebt. Es war eine Erzählung voller Lücken und Widersprüche, doch an diesem Abend schien mein Vater davon nichts zu bemerken, und auch später würde er sie nicht in Frage stellen. Das ehemalige Gesindehaus, in dem Józef meine Eltern untergebracht hatte, nahm die Züge des Hauses in Fürstenau an, in dem mein Vater aufgewachsen war. Der Kachelofen, die Toilette im Hof, die keine Wasserspülung |227| hatte, das Klappern der Pferdehufe hatten die Welt seiner Kindheit noch einmal heraufbeschworen. An diesem Abend verbanden sich ein letztes Mal die brüchigen Erinnerungen meines Vaters mit den verstreuten Episoden aus Józefs Leben zu jener Doppelhelix aus Kindheitsphantasien, Halbwahrheiten und Lügen, die mich über viele
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