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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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Handschuhfach. Józef hatte eine Wegbeschreibung geschickt: »Von der DDR aus fährst Du in Richtung Breslau (Wrocław), Kreuzberg (Kluczborg) und Rosenberg (Olesno). Ich wohne zwei Kilometer außerhalb von Lubliniec, nicht weit von der Kreuzung mit dem Fleischergeschäft. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dass ich Dich nach so langer Zeit wiedersehen werde. Wir werden uns viel zu erzählen haben.«

 
    |222| M eine Eltern hatten zwei Kartons mit Lebensmitteln im Kofferraum, Kaffee, Konserven mit Ananas und Pfirsichen, Kakao, Zucker und Mehl, außerdem einen Taschenrechner, um den Józef meinen Vater gebeten hatte. Als sie am Morgen die Grenze überquert hatten, zusammen mit einer Kolonne aus Lkws, waren sie zunächst einem weiten, grauen Himmel entgegengefahren, der über endlosen Stoppelfeldern lag. Jetzt war Nachmittag, und seit sie Breslau hinter sich gelassen hatten und entlang der Oder in Richtung Oberschlesien gefahren waren, schien Polen nur noch aus dichten Wäldern zu bestehen. Buchen, Eichen und Linden zogen an ihnen vorüber, dann wieder dunkle Kiefernschonungen.
    Mein Vater saß hinter dem Steuer. Er wich Schlaglöchern aus, überholte Pferdefuhrwerke, Trecker und klapprige Omnibusse. Meine Eltern sahen alte Männer mit zerbeulten Mützen und Arbeitsjacken, die ihre Fahrräder am Straßenrand entlangschoben, und alle paar Kilometer durchquerten sie ein Dorf mit einem unaussprechlichen Namen, den meine Eltern mühsam, Buchstabe für Buchstabe, mit den Einträgen auf ihrer Karte verglichen. Chrząstowice, Dębska Kużnia und Grodziec waren Ortschaften, die nur aus zwei oder drei Straßenzügen bestanden, grob verputzte Kolonistenhäuser mit kleinen Ställen, leeren Wäscheleinen und |223| struppigen Hunden, die hinter den Gartenzäunen auf- und abliefen und den Autos nachbellten. Schmale Forstwege führten zwischen den Dörfern in die Wälder, vergessene Milchkannen standen an den Zufahrten zu Bauernhöfen.
    Es war Dienstag, der 31. Oktober 1978. Am nächsten Tag wurde in Polen Allerheiligen begangen, und der Tag darauf war Allerseelen, an dem die katholische Kirche der Verstorbenen gedenkt. Überall auf den Dörfern hatten meine Eltern Frauen mit langen Röcken und Kopftüchern gesehen, die auf den Friedhöfen die Gräber schmückten. In Ozimek überquerten sie die Malapane, einen schmalen, unscheinbaren Fluss. Von hier wären es nur ein paar Kilometer nach Groß Stanisch, heute Staniszcze Wielkie, gewesen, wo der preußische Hilfsschaffner Augustyn Koźlik sechzig Jahre zuvor Maria Wieszolek geheiratet hatte und wo im Februar 1925 ihr Sohn Józef zur Welt gekommen war. Davon wusste mein Vater nichts, doch als er mir dreißig Jahre später die Fahrt durch das Oppelner Land beschrieb, überlagerten sich seine Erzählungen mit meinen Recherchen. Ich war selbst oft mit dem Auto über die Dörfer gefahren, die auf beiden Seiten der Malapane lagen.
    Die Sonne war untergegangen, und die letzten Kilometer legten meine Eltern mit eingeschalteten Scheinwerfern zurück. Schließlich erreichten sie Lublinitz. Eine Straße führte rund um die Altstadt, an einer Kirche vorbei, wieder kam ein Friedhof, dann der Bahnhof. Sie fuhren auf der
ulica Oleska
aus der Stadt heraus, nach Steblau, das inzwischen ein Ortsteil von Lublinitz geworden war, und nach zwei Kilometern hielten sie an einer Kreuzung. Es war sechs Uhr abends, eine Straßenbeleuchtung gab es nicht, und aus dem Fleischergeschäft, das Józef erwähnt hatte, drang nur ein |224| schwacher Lichtschein nach außen. Die Fensterläden waren bereits geschlossen.
    Meine Eltern wollten gerade noch einmal einen Blick in den Brief mit der Wegbeschreibung werfen, als im Licht der Scheinwerfer plötzlich eine Gestalt auftauchte, ein hagerer Mann mit einem schmalen Gesicht, die Haare streng nach hinten gekämmt. In der Hand hatte er eine Zigarette, die kurz aufglimmte, als er einen letzten Zug nahm und sie anschließend in die Dunkelheit warf. Mein Vater kurbelte die Scheibe herunter. Als der Mann sich zum Fenster beugte, bemerkte er die Ascheflocken auf dem breiten Kragen des Mantels. »Ich bin es«, sagte der Mann. »Józef.«
     
    Die kalte und feuchte Luft war durch die Fensterritzen ins Zimmer gekrochen, die Scheiben waren beschlagen, das Bettzeug klamm. Es war ein Herbstmorgen wie einst in Fürstenau. Mein Vater wachte auf, als er Pferdehufe draußen auf der Straße hörte, wie damals, wenn die langen Eichenbretter, die sein Großvater zu
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