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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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die unterirdischen Gänge. Fledermäuse hingen von der Decke, und schwere Eisenringe erinnerten daran, dass hier einst Gefangene angekettet worden waren.
    Atemlos hörte ich zu, wenn mein Vater von diesen Expeditionen berichtete. Ich spürte im Nacken den kalten Luftzug, der durch die Verliese strich, ich erschrak, wenn die Kerzenflamme zu flackern begann, wenn die Schatten sich aus den Ecken und Mauervorsprüngen lösten und über die feuchten Wände tanzten. Das Herz schlug mir bis zum Hals, wenn mein Vater schilderte, wie er glaubte, sich in den Gängen verlaufen zu haben, bis ich schließlich erleichtert mit ihm aufatmete, wenn im letzten Moment ein Streifen Tageslicht die Dunkelheit durchbrach und ihm den Weg zum Ausgang wies, so wie es Tom Sawyer ergangen war, als er und Becky Thatcher sich in der Höhle verlaufen hatten.
    Es war eines der Bücher, die mein Vater mir vorgelesen hatte. Doch die Geschichten aus Fürstenau waren mir lieber. Ich durfte bei all den Streifzügen meines Vaters mit dabei sein. Ich schlich mit ihm durch raschelnde Kornfelder, Pfeil und Bogen griffbereit und eine Taubenfeder im |15| Haar; ich sah ihm über die Schulter, wenn er aus einer Astgabel und einem alten Fahrradschlauch eine Steinschleuder bastelte und im Pottebruch, dem Stadtwald von Fürstenau, mit Kieselsteinen auf Krähen und Elstern schoss, die sich in den dichten Kronen der Laubbäume verbargen. An flirrenden, heißen Sommertagen lief ich mit meinem Vater den kleinen Pfad an den Bahngleisen entlang, der aus der Stadt hinausführte. Ich begegnete bärbeißigen Gleisarbeitern und schweigsamen Streckenläufern, und ich bewunderte im Geiste die Kupfermünzen, die mein Vater auf die Schienen legte, um sie von den Rädern eines vorbeirauschenden Güterzuges zu hauchdünnen Kupferscheiben pressen zu lassen, die im Sonnenlicht in allen Farben schillerten.
    Hinter dem Bahnhof, nur einen Steinwurf vom Güterschuppen entfernt, lag an einer schmalen Schotterstraße Arnolds Tischlerei. Am besten gefiel es mir, wenn mein Vater mir vom Alltag in der Werkstatt und im Haus seiner Großeltern erzählte, auch wenn es im Grunde genommen nur einige wenige Begebenheiten waren, die er zu immer neuen kleinen Geschichten zusammensetzte. Er hatte als Kind eine Wasserpistole besessen, die er in Karls Beizstube heimlich mit einer der ätzenden Flüssigkeiten gefüllt hatte, um Jagd auf die Fliegen zu machen, die hinter der Tischlerei auf der Bretterwand des Holzschuppens in der Sonne saßen. Dann gab es Rex, den Schäferhundmischling, der wild und ungestüm war und in einer Hütte neben der Garage gehalten wurde, in der Arnolds Borgward Isabella stand. Einmal hatte mein Vater den Hund von seiner rostigen Kette befreit und ihn anschließend mit einem Stück altem Seil wie ein Zugpferd vor einen Handwagen gespannt, nur um nach |16| einer kurzen und halsbrecherischen Fahrt vor dem Haus im Graben zu landen.
    Es war Anna, seine Großmutter, die anschließend in der Küche seine blutigen Knie und Hände mit Wundpflaster versorgte. Anna führte den Haushalt, und bevor mein Vater eingeschult wurde, verbrachte er viel Zeit mit ihr. Er verbarg sich unter den Tannen, die an der Grenze zum Nachbargrundstück standen, und wenn Anna in ihrer Kittelschürze und mit einem Korb Wäsche in den Händen aus dem Haus kam, brach er unter lautem Geheul wie ein Indianer zwischen den Bäumen hervor. Anna erschrak und schimpfte, nur um ihm kurz darauf in der Küche eine Scheibe frisches Brot mit Butter und Zucker zu richten. Sie hielt den Laib fest an die Brust gepresst, wenn sie es schnitt, so wie sie es auf dem Bauernhof gelernt hatte, auf dem sie aufgewachsen war.
    Im Sommer nahm Anna meinen Vater auf dem Fahrrad mit in den Pottebruch, um Blaubeeren zu sammeln, die hier in der Gegend Bickbeeren genannt wurden. Sie kannte die besten Stellen, und abends wurden die Beeren zusammen mit frischer Dickmilch gegessen, die den Tag über mit einem Geschirrtuch bedeckt in einer großen Schüssel auf den warmen Stufen des Hauses gestanden hatte. Aus Johannisbeeren und Himbeeren machte Anna Saft, den sie auf Flaschen zog oder zu Obstwein vergor, und im Spätsommer, wenn es die ersten Regenfälle gegeben hatte, zog sie mit der ganzen Familie los, um Steinpilze zu suchen. Abends bereitete sie sie in der schweren Pfanne zu, in der sie sonst die Kartoffeln briet, die vom Mittagessen übrig geblieben waren. Im Herbst röstete Anna Esskastanien auf dem Ofen, und im Winter verrührte sie
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