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Die Legenden der Vaeter

Die Legenden der Vaeter

Titel: Die Legenden der Vaeter
Autoren: Kolja Mensing
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empfindlichen Magen und schwor darauf, sich auf diese Art vor Krankheitskeimen zu schützen. Anschließend zog er sich ins Wohnzimmer zurück, legte sich auf die Chaiselongue und blätterte in einer zerlesenen russischen Grammatik. Manchmal hörte man ihn dabei leise vor sich hin murmeln.
    Jetzt wurde mein Vater zu Bett geschickt. Er wusch sich am Spülstein in der Küche unter der Pumpe, dann ging er |11| auf die Toilette, die im Stall neben der Küche untergebracht war und in den fünfziger Jahren noch keine Wasserspülung hatte. Er lief durch die Diele in das Zimmer, das er sich mit seiner Mutter und Eleonore teilte, und bevor er einschlief, lauschte er auf die leisen Geräusche im Obergeschoss des Hauses. Dort hatten Arnolds Geschwister ihre Zimmer, der Junggeselle Karl, der in der Beizstube arbeitete, Rudolf, der Polsterer, der eine eigene Werkstatt in der Stadt besaß und das Haus schon bald mit seiner Familie verlassen würde, und seine Schwester Lore, die ihren Mann an der Ostfront verloren hatte und am Ende des Krieges mit ihrem Sohn in ihr Elternhaus zurückgekehrt war. Arnolds Vater war bereits vor langer Zeit gestorben, aber seine Mutter, die Urgroßmutter meines Vaters, lebte noch. Auch sie hatte ein Zimmer im oberen Stockwerk, und mein Vater bekam sie nur zu Gesicht, wenn sie mit ihrem Nachtgeschirr in der Hand die Treppe herunterkam.
    Anna, Arnold, Marianne und Eleonore spielten in der Küche Karten, bis es auch für sie Zeit war, sich schlafen zu legen. In manchen Nächten wachte mein Vater noch einmal auf, wenn sich leise die Tür öffnete und seine Mutter und ihre Schwester in das Zimmer kamen. Sie zogen sich im Dunkeln aus, lösten ihr Haar und warfen sich ihre Nachthemden über. Es gab nur zwei Betten. Marianne schlüpfte zu meinem Vater unter die Decke, und selbst im Sommer waren ihre Füße noch kalt vom Steinfußboden.
    Mein Vater erzählte mir beim Abwaschen oder auf langen Autofahrten von den Nachmittagen in der Tischlerei, von der Küche seiner Großmutter Anna und von dem Bett, in dem er auch dann noch gemeinsam mit seiner Mutter schlief, als er längst in die Schule ging. Ich war damals selbst |12| noch ein Kind, und ich konnte nicht genug von diesen Geschichten bekommen. Sie vermittelten mir ein Gefühl von Geborgenheit. Ich glaubte fest daran, dass mir nichts passieren würde, solange mein Vater mit seiner tiefen Stimme in wenigen Sätzen die Zeit seiner Kindheit heraufbeschwören konnte. So nahe wie damals sollte ich ihm nie wieder sein, doch die Geschichten, die er mir erzählt hatte, haben mich nie verlassen. Seit mehr als dreißig Jahren trage ich diese Erinnerungen meines Vaters mit mir herum.

 
    |13| D ie Stadt, in der mein Vater aufgewachsen war, heißt Fürstenau. Sie liegt im Nordwesten Deutschlands, im Niemandsland zwischen der niederländischen Grenze und den Dammer Bergen. In einem Autoatlas ist sie leicht zu finden, man muss nur der alten Bundesstraße 214 folgen, die vom Harz aus quer durch Niedersachsen in Richtung Westen verläuft. Ich selbst bin nie dort gewesen, und bis heute kommt es mir so vor, als ob Fürstenau in Wirklichkeit gar nicht existiert. Die ehemalige Garnisonsstadt, die in alten Urkunden Verstenowe, Fastenouwe oder Fürstenouwe genannt wird, gehört für mich in ein Land, das aus Zeit und Raum gefallen ist und das ich nur als Kind zusammen mit meinem Vater hatte betreten dürfen.
    In der Mitte der Stadt befand sich ein Schloss, das von einem breiten Graben umgeben war, dem Schlossteich. Einmal im Jahr wurde das Wasser durch eine Schleuse abgelassen. Die Karpfen, die auf dem trockengelegten Grund nach Luft schnappten, wurden verkauft, und auch mein Vater stand mit einem Eimer in der Hand an, um einen der riesigen, zappelnden Fische nach Hause zu tragen. Der Turm des Schlosses war lange Zeit vor dem Krieg gesprengt worden, aber ein Teil der Gebäude blieb erhalten. Hier war das Amtsgericht der Stadt untergebracht, und wenn die |14| Schule aus war, lief mein Vater über die Brücke, die von zwei mächtigen alten Buchen begrenzt wurde und über den Schlossteich auf die Insel führte. Hier konnte man noch die Reste einer mittelalterlichen Befestigungsanlage erkennen, Bollwerke aus Sandstein und handgefertigten Ziegeln, die von Moos, Gras und Sträuchern überwuchert wurden. Mein Vater verbrachte ganze Nachmittage damit, die verborgenen Einstiege aufzuspüren, die in die Kellerräume unter dem Schloss führten. Mit einem Kerzenstummel in der Hand erkundete er
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