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Die Lady auf den Klippen

Die Lady auf den Klippen

Titel: Die Lady auf den Klippen
Autoren: Brenda Joyce
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sie konnte sich nicht daran erinnern – ebenso wenig wie an ihr Leben vor diesem Tag. Noch schlimmer war, dass sie sich auch nicht an ihre Mutter erinnern konnte. Wenn sie das Porträt betrachtete, das über der Treppe hing, dann sah sie eine schöne Frau. Aber ihr schien es, als sähe sie eine Fremde.
      Irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf lebten jedoch noch vage, dunkle Erinnerungen an die Vergangenheit. So war es immer gewesen. Sie wusste es so genau, wie manche Leute behaupteten, mit einem Geist zu leben, oder wie Kinder wussten, dass eingebildete Freunde in ihrem Zimmer wohnten. Doch es spielte keine Rolle, denn sie wollte diese Ungeheuer nicht finden. Außerdem – wie viele Erwachsene konnten sich an das Leben vor ihrem sechsten Lebensjahr erinnern?
      Jedenfalls hatte sie seit dem Aufstand damals keine einzige Träne vergossen. Auch Trauer war ihrem Herzen fremd. Blanche war sich darüber im Klaren, dass sie anders war als andere Frauen, aber das war ihr Geheimnis. Ihr Vater hatte die Wahrheit gekannt und den Grund dafür auch. Ihre beiden besten Freundinnen nahmen an, dass sie eines Tages genauso leidenschaftlich und unvernünftig sein würde wie sie selbst. Und sie warteten darauf, dass sie sich heftig verliebte.
      Blanche war immer vernünftig gewesen. Jetzt drehte sie sich zu Bess um. „Nein. Ich sehe keinen Sinn darin, das Unvermeidliche aufzuschieben. Vater war vierundsechzig Jahre alt, und er hatte ein herrliches Leben. Er würde wollen, dass ich weitermache, so wie wir es geplant haben.“
      Bess legte den Arm um sie. Sie hatte mittelbraunes Haar, wunderschöne grüne Augen, eine wohlgerundete Figur und volle Lippen, von denen sie behauptete, dass Männer sie bewunderten – in mehr als einer Weise. Da Bess gern über ihre Liebhaber sprach, wusste Blanche genau, was sie damit meinte, und konnte sich nicht vorstellen, dass eine Frau so etwas tat.
      Einst hatte Blanche sich gewünscht, so wie Bess zu sein, oder zumindest eine zahmere Version von ihr. Kürzlich hatte sie festgestellt, dass sie sich nicht ändern würde. Was immer das Leben ihr auch bieten mochte, sie würde ernsthaft und vernünftig ihren Weg gehen. Es würde kein Drama darin geben, keine Qualen und ganz bestimmt keine Leidenschaften.
      „Ja, das stimmt. Du hast dein ganzes Leben damit zugebracht, dich zu verstecken“, erklärte Bess entschieden. Blanche wollte widersprechen, doch die Freundin fuhr fort: „So tragisch es auch ist, Harrington ist tot. Du hast keine Entschuldigungen mehr, Blanche. Er ist nicht mehr hier. Wenn du dich weiter versteckst, wirst du ganz allein sein.“
      Es war unglaublich, aber bei der Erwähnung ihres Vaters empfand sie nahezu nichts. Sie fühlte sich wie taub, wenn sie doch hätte schluchzen und weinen sollen. Seit seinem Tod hatte sie sich so gefühlt. Der Kummer war wie eine sanfte Brise und beinahe schmerzlos. Sie vermisste ihn – wie hätte es anders sein sollen? Er war der Anker in ihrem Leben gewesen seit jenem schrecklichen Tag, an dem ihre Mutter gestorben war.
      Wenn sie doch nur vor Wut und Zorn weinen könnte! Aber in ihren Augen hatte nur selten eine Träne geschimmert.
      Blanche lächelte finster und trat vom Fenster zurück. „Ich verstecke mich nicht, Bess. Niemand empfängt so häufig Besucher wie ich.“
      „Du hast dich vor der Leidenschaft und dem Vergnügen versteckt“, rief Bess aus.
      Blanche musste lächeln. Darüber hatten sie öfter gestritten, als sie es hatten zählen können. „Ich bin eben von Natur aus nicht leidenschaftlich“, sagte sie leise. „Und Vater ist nicht mehr da, aber zum Glück habe ich dich und Felicia“, erklärte sie mit einem leichten Lächeln. „Ich verlasse mich auf euch beide. Ich wüsste nicht, was ich ohne euch tun sollte.“
      Bess verdrehte die Augen. „Wir suchen dir einen gut aussehenden jungen Burschen, auf den du dich stützen kannst, Blanche, damit du endlich dein eigenes Leben führen kannst. Mehr als zweihundert Bewerber – und du darfst wählen!“
      Bei dem Gedanken verspürte Blanche einen Anflug von Unsicherheit. „Ich fürchte mich vor dem Andrang“, gestand sie. „Wie soll ich da wählen? Wir wissen beide, dass sie nur meine Mitgift wollen, und Vater wollte für mich mehr als das.“
      „Nun, ich kann mir nichts Besseres vorstellen als einen fünfundzwanzigjährigen Mitgiftjäger. Solange er nur unverschämt gut aussieht und …“, sie lächelte, „ … sehr viril
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