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Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein

Titel: Die Kunst, kein Egoist zu sein - Precht, R: Kunst, kein Egoist zu sein
Autoren: Richard David Precht
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nicht lange her, dass sich junge Menschen die Köpfe über diese Frage heiß redeten. Von Mitte der 1960er bis Mitte der 1970er Jahre galt das Private vielen jungen Intellektuellen als das Politische. Und auch die Ökobewegung der frühen 1980er Jahre forderte von sich und der Gesellschaft: »Du musst dein Leben ändern!« Erst der erneut starke Anstieg des Wohlstandes in den 1980er und 1990er Jahren ließ die Diskussionen um ein alternatives Leben, alternative Werte und ein alternatives Wirtschaften für längere Zeit wieder weitgehend verstummen.
    Die Frage nach dem guten Leben entzündet sich in Krisenzeiten. In Platons Zeit ging es um nichts weniger als das Ganze. Wenn man sich die Situation vorstellt, in der er philosophiert, so erscheint unsere heutige Zeit auch eingedenk der Weltwirtschaftskrise dagegen ruhig und harmlos. Nie zuvor erlebte das Abendland eine solche Blüte der Kunst und einen solchen Sturm
bahnbrechender Ideen wie im antiken Athen. Doch die Supermacht steht kurz vor dem totalen Kollaps.
    Platons Rezept gegen den Verfall ist die Idee einer Reinigung. Die Menschen, so meint er, müssten wieder ganz neu lernen, mit sich selbst richtig umzugehen. Statt Forderungen an den Staat und die Gemeinschaft zu stellen, sollten sie bei sich selbst anfangen. Denn nur ein sehr tugendhafter Mensch sei auch ein guter Bürger.
    So weit die Idee. Die Probleme eines solchen Programms aber sind groß. Auch Platon weiß, dass reale Menschen nicht in einer Idealwelt leben, und zwar weder in einer äußeren noch in einer inneren. Äußerlich bestimmen die Wechselfälle des Lebens, die Einflüsse, der Zufall und das Schicksal sehr weitgehend über mein Verhalten. Und auch innerlich segeln die allermeisten Menschen nicht in ruhigem Gewässer. Ihre Ängste und Sorgen, ihre Neigungen und Wünsche, ihre Bedürfnisse und Begehren lassen sie hin und her schaukeln.
    Wie lässt sich in einer solchen Situation ein positives Selbstbewusstsein gewinnen? Wie wird man zum Regisseur eines guten, moralisch sauberen Lebens? Wie gewinne ich die nötige Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle? Um diese Fragen zu klären, inszeniert Platon seine handgeschriebenen Talkshows. Mit seinem Talkmaster Sokrates, einem Alter Ego des Autors, lotst er den Leser durch den Parcours der Ansichten und Argumente. Für Platon ist dies ein wunderbares Spiel. Er ist Regisseur und Moderator zugleich. Und am Ende gewinnt in diesem Gedankenkasino immer das Haus, also Sokrates/Platon. Nur in dem einen oder anderen seltenen Fall wird die Entscheidung vertagt. Auf diese Weise gelingt es Platon, den Leser dort abzuholen, wo er normalerweise steht. Nach und nach thematisiert er alle denkbaren Haltungen zum Leben und spielt die Vorzüge gegen die Einwände aus. Begriffliche Unschärfen werden geklärt und Widersprüche freigelegt. Am Schluss ist die Spreu vom Weizen getrennt und Ordnung in die Vielfalt gebracht. Die Gesprächspartner
des Sokrates lernen ihre falschen Vorstellungen aufzugeben. Und es wird ihnen klar, wie ein Leben aussehen könnte, das für jedermann gut und richtig ist.
    Platons Talkshow ist ein Erfolgsformat, ohne jeden Zweifel. Die Forschung allerdings hat oft darüber gerätselt, für welches Publikum sie gedacht war. Denn der gebildete Leser wusste natürlich ganz genau, dass dieser Sokrates nicht der echte Sokrates war. Der war ja bekanntlich bereits tot. Was aber ist dann der Sinn dabei, dass Platon sich hinter Sokrates versteckt? Möglicherweise sind Platons frühe Dialoge tatsächlich von authentischen Gedankengängen des historischen Sokrates inspiriert. Aber eben nur die frühen. Was das Publikum anbelangt, so sollten die Talkshows ganz offensichtlich der Volksbildung dienen - aber welchen Volkes? Für den Breitengeschmack waren die Dialoge zu schwer verständlich. Wahrscheinlich las letztlich mal wieder nur ein ziemlich kleiner Kreis die Schriften. Oder er hörte ihnen, gemäß einer richtigen Talkshow, zu, wenn sie von anderen vorgelesen wurden, möglicherweise sogar mit verteilten Rollen.
    Und was war die Moral der Texte? So nett und mitunter sogar humorvoll sie auch verpackt sind, so autoritär sind Platons Vorstellungen zugleich. Eisern fordert Sokrates seine Gesprächspartner auf, ihr Leben hart zu prüfen und nahezu alles umzukrempeln. Ein jeder soll so leben, als ob einem der Philosoph ständig streng über die Schulter blickte. Noch besser wäre es, sie würden selbst weise Philosophen werden. Denn genau darin sieht Platon des
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