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Die Kultur der Reparatur (German Edition)

Die Kultur der Reparatur (German Edition)

Titel: Die Kultur der Reparatur (German Edition)
Autoren: Wolfgang M. Heckl
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dass es für einzelne Atome energetisch günstigere Positionen gibt.
    Das Prinzip der Energieminimierung ist ein übergeordnetes Prinzip in der Natur: Die Atome suchen in allen drei Raumrichtungen so lange ihren Platz, bis sie den gefunden haben, der für sie perfekt ist: Werfe ich Orangen in eine Kiste und schüttle diese, so nehmen sie die dichteste Packung ein, eine Stapelung, wie wir sie auch auf dem Obstmarkt vorfinden. Diese dichteste Packung wird dadurch erreicht, dass das Schütteln die energetisch betrachtet ungünstigen Positionen in die geordneteren Lagen überführt. Genau so muss man sich das für die Atome in einem wachsenden Kristall vorstellen, der über die Wärmebewegung der Teilchen in der Lösung „durchgeschüttelt“ wird.
    Weil Kristalle sich Positionen „merken“ und auf der sich vor ca. 3,8 Milliarden Jahren abkühlenden Erdoberfläche als die ersten geordneten Strukturen entstanden (und weil Ordnung der erste Schritt zur Entstehung von Leben ist), sprach der englische Chemiker Graham Cairns-Smith auch von „lebenden Kristallen“. Das würde mir aber zu weit gehen. Das atomare Konstruieren ist ein physikalisches Prinzip, und Kristalle sind als Template, auf deren Oberfläche sich erst Leben entwickeln konnte, wichtige Voraussetzung für unsere eigenen Forschungen zum Ursprung des Lebens. Mehr aber auch nicht.
    Als Werksstudent habe ich bei der Firma Siemens gearbeitet und dort Siliziumkristalle gezüchtet: Meine Aufgabe war es, mithilfe von physikalischen Verfahren die Natur zu animieren, den ganzen „Dreck“, die ungewünschten Fehlatome, die noch in den Kristallen vorhanden waren, herauszubringen. Es ging darum, die Fehler in der Züchtung zu reparieren, um am Ende reine Siliziumkristalle zu erhalten. Zonenziehen hieß der Vorgang. Ob Siemens oder Wacker Chemie, ob Halbleiterelektronik, Solarzellen oder Transistorkristalle,all das funktioniert nur deshalb, weil es nach dem Beseitigen der ungewünschten „Dreck“-Atome im darauffolgenden Herstellungsprozess den definierten Einbau von gewünschten Fremdatomen gibt, der durch die Veränderung der Randbedingungen Selbstorganisation und Energieminimierungsprinzip geschickt ausnutzt. Es ist dies ein Vorgehen, um bestimmte Eigenschaften von Materialien maßzuschneidern – denken wir nur an das Dotieren von Halbleiterkristallen (p- oder n-Leiter), die die gesamte Halbleiterelektronik erst möglich gemacht haben.
    Jede Materialwissenschaft als Voraussetzung zur Herstellung neuer Produkte mit gewünschten Eigenschaften bedient sich dieser Kenntnisse vom Aufbau der Materie, und fast alle natürlichen Materialien, die wir in unserem Umfeld finden, sind zumindest mikrokristallin und benutzen das Prinzip der Reparatur von Fehlstellen.
    Entscheidend ist: Die Natur macht Fehler, die sie, zumindest teilweise, wieder repariert. Und weil jedes nicht-lebende Material, das wir in unserer Umwelt finden, dieses Reparaturprinzip benutzt, gehört es zur Genesis aller Stoffe auf unserer Erde. Das beginnt mit dem Urknall und setzt sich fort mit der Entstehung der Sterne und der Planeten. Die Erde hätte sich ohne Reparatur vor rund vier Milliarden Jahren niemals bilden können, und hätte es bei der Erkaltung der Erde keine Energieminimierung, Selbstorganisation und keine Reparatur gegeben, würden wir nicht existieren.

Wie Leben entstand
    Haben sich beim Bergkristall die anorganischen Moleküle miteinander verbunden, passiert dies in einer ähnlichen Weise bei lebenden Systemen mit Molekülen. Erst ordneten sich in der sogenannten Ursuppe die Ausgangsmoleküle wie DNA-Basen und Aminosäuren zu zweidimensionalen Strukturen, indem sie Kristalloberflächen als Template benutzten. Als damit ein primitiver genetischer Code erfunden war und erste Polypeptide ermöglichte, lösten diese sich von der Unterlage, um dann das dreidimensionale System aus DNA-Code und Proteinen zu bilden. Dabei spielte der Selbstreparaturmechanismus bereits eine Rolle. Doch wie genau entstand das Leben?
    Diese Frage stellte schon der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, Karl August, dem acht Jahre älteren Goethe; beide verband eine tiefe Freundschaft. Goethe meinte die Antwort auf die Frage, wie aus totem lebendes Material wurde, zu kennen, da er schon des Öfteren beobachtet hatte, wie zum Beispiel aus verrottendem Material wenig später Würmer herauskrochen. Er glaubte an die vis vitalis der Lebensphilosophie, eine den unbelebten Materialien innewohnende Lebenskraft. Deren
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