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Die Königliche (German Edition)

Die Königliche (German Edition)

Titel: Die Königliche (German Edition)
Autoren: Kristin Cashore
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überrumpelte. Deshalb machte ihr das Gerede über die Heirat Angst: Dinge, die als einfaches Gesprächsthema begannen, wurden plötzlich mit aller Macht zu realen Gegebenheiten, bevor sie sie auch nur verstanden oder sich eine Meinung darüber gebildet hatte. So war es mit dem Gesetz über die Generalamnestie für alle Verbrechen, die während Lecks Herrschaft begangen worden waren, gewesen. Und ebenso mit der Bestimmung, die den Städten erlaubte, sich aus der Herrschaft ihrer Lords zu befreien und sich selbst zu verwalten. Und mit dem Vorschlag – es war nur ein Vorschlag! –, Lecks frühere Wohnräume zu verbarrikadieren, seine Tierkäfige im Garten abzubauen und seine Habseligkeiten zu verbrennen.
    Nicht, dass sie wirklich etwas gegen irgendeine dieser Maßnahmen gehabt hätte oder ihre Zustimmung bereute, sobald die Dinge sich so weit gesetzt hatten, dass sie verstand, was sie da eigentlich bewilligt hatte. Es war nur so, dass sie oft nicht genau wusste, was sie dachte, sie brauchte mehr Zeit als ihre Ratgeber, konnte nicht immer voranpreschen, so wie sie, und es machte sie unzufrieden, zurückzublicken und festzustellen, dass sie sich zu irgendetwas hatte überreden lassen. »Das soll so sein, Königin«, erklärten sie ihr, »ein gewolltes Nach-vorne-Schauen. Diese Politik sollten Sie unterstützen.«
    »Aber …«
    »Königin«, hatte Thiel sanft gesagt, »wir versuchen die Leute aus Lecks Bann zu befreien und ihnen dabei zu helfen, weiterzuleben, verstehen Sie? Sonst suhlen sie sich nur in ihren verstörenden Geschichten. Haben Sie mit Ihrem Onkel darüber gesprochen?«
    Ja, das hatte sie. Bitterblues Onkel war nach Lecks Tod seiner Nichte zuliebe durch die halbe Welt zu ihr gekommen. König Ror hatte Monseas neue Verfassung geschaffen, die Ministerien und Gerichtshöfe gegründet, die Verwalter ausgewählt und das Königreich dann in Bitterblues zehnjährige Hände gelegt. Er hatte sich um die Feuerbestattung von Lecks Leiche gekümmert und den Mord an seiner Schwester betrauert, Bitterblues Mutter, die nicht mehr war. Ror hatte Ordnung in das Chaos von Monsea gebracht. »Leck ist noch im Bewusstsein zu vieler Menschen präsent«, hatte er gesagt. »Seine Gabe ist eine Krankheit, die immer noch schwelt, ein Albtraum, und du musst den Leuten dabei helfen, ihn zu vergessen.«
    Aber wie war Vergessen möglich? Konnte sie ihren eigenen Vater vergessen? Konnte sie vergessen, dass ihr Vater ihre Mutter ermordet hatte? Wie konnte sie den Raub ihres eigenen Bewusstseins vergessen?
    Bitterblue legte die Feder weg und ging vorsichtig zu einem der Fenster, die nach Osten zeigten. Sie hielt sich mit einer Hand am Rahmen fest und legte die Stirn ans Glas, dann schloss sie die Augen, bis das Gefühl zu fallen nachließ. Am Fuß des Turms bildete der Fluss Dell die Nordgrenze der Stadt. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie entlang des Südufers ostwärts, an den drei Brücken vorbei, hinter denen sie den Silber- und Holzhafen sowie den Fischerei- und Handelshafen vermutete. »Wassermelonenbeet«, sagte sie seufzend. Natürlich war es zu weit weg und zu dunkel, um es sehen zu können.
    Der Dell floss an der Nordmauer des Schlosses langsam dahin und war breit wie eine Bucht. Das gegenüberliegende, morastige Ufer war unbebaut und wurde nur von denen bereist, die weit in Monseas Norden lebten, trotzdem hatte ihr Vater aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen diese drei Brücken gebaut, die alle höher und herrlicher waren, als es für Brücken eigentlich nötig war. Der Boden der nächstgelegenen, der Winged Bridge, war aus weißem und blauem Marmor, wie Wolken. Die größte, Monster Bridge, hatte einen Fußweg, der bis zu ihrem höchsten Bogen anstieg. Winter Bridge, ganz aus Spiegeln gefertigt, war tagsüber schwer vom Himmel zu unterscheiden und funkelte nachts im Licht der Sterne, des Wassers und der nächtlichen Stadt. Jetzt, während des Sonnenuntergangs, waren die Brücken purpurfarbene und blutrote Umrisse, unwirklich und geradezu animalisch; riesige schlanke Kreaturen, die sich über wallendes Wasser nordwärts ertreckten, zu nutzlosem Land.
    Das Gefühl zu fallen beschlich sie erneut. Ihr Vater hatte ihr eine Geschichte von einer anderen funkelnden Stadt erzählt, auch mit Brücken und einem Fluss – einem rauschenden Fluss, dessen Wasser über eine Klippe stürzte, durch die Luft fiel und weit unten ins Meer donnerte. Bitterblue hatte vor Freude gelacht, als sie von diesem fliegenden Fluss
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